Im Abstimmungskampf zur KVI gehen die Wogen hoch. Ja-Fahnen zieren jeden zweiten innerstädtischen Balkon, die Initianten machten diese Abstimmung zur teuersten aller Zeiten. Auf der anderen Seite werden die Initianten auf Facebook in einer Verleumdungskampagne als «linke Krawallanten» verunglimpft und Ueli Maurer wird «bei der Arroganz, die hinter dieser Initiative steckt, fast schlecht».
So hart die Bandagen in diesem Kampf sind, so knapp wird wohl auch das Ergebnis werden. Momentan liegen Befürworter und Gegner laut Umfragen etwa gleichauf. Die Gegenseite argumentiert dabei mit Aussagen, die in den letzten Tagen und Wochen immer wieder von Juristen entkräftet und als haltlos bezeichnet wurden. Nachfolgend schauen wir uns die drei wichtigsten im Detail an.
Wird die KVI angenommen, würden Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitenden oder KMUs, welche in sensitiven Bereichen tätig sind, dazu verpflichtet, eine Sorgfaltsprüfung durchzuführen, um Schäden an Mensch und Umwelt zu vermeiden. Kommt es trotzdem zu Schäden – dabei sind Tätigkeiten von Tochtergesellschaften im Ausland mit eingeschlossen – dann wären die Konzernmütter mit den neuen Haftungsbestimmungen in der Schweiz zivilrechtlich haftbar.
Das heisst konkret: Verpestet ein Tochterunternehmen einer Schweizer Firma einen Fluss irgendwo im Ausland, dann könnte die Muttergesellschaft hier in der Schweiz dafür verklagt werden.
Den Gegnern der Initiative sind diese Haftungsbestimmungen ein Dorn im Auge. Sie monieren, dass die Initiative eine Beweislastumkehr beinhalte. Das heisst, dass Schweizer Unternehmen bei einer Klage so lange schuldig wären, bis sie das Gegenteil beweisen könnten. Diese Behauptung wurde von höchsten Kreisen übernommen. So sagte Justizministerin Karin Keller-Sutter zum Beispiel:
Das irritiert, denn es stimmt nicht. Die Initiative sieht keine Umkehr der Beweislast vor. Die Initiative orientiert sich viel mehr an der bereits seit langem bestehenden Geschäftsherrenhaftung, wie es in der Botschaft des Bundesrats richtig heisst. Eine ähnliche Haftungslogik findet sich auch in anderen Lebensbereichen: Zum Beispiel haftet man als Eltern für seine minderjährigen Kinder oder als Tierhalter für seinen Hund.
Die Beweispflicht bei der Geschäftsherrenhaftung liegt stets bei den Geschädigten und das Schweizer Unternehmen kann sich sodann von der Haftung befreien. «Die Geschädigten tragen also weiterhin die hürdenreichen Beweise zum Schaden, der Widerrechtlichkeit der Handlung und dem Kausalzusammenhang zwischen Handlung und Schaden», sagt Isabelle Wildhaber, Professorin für Privat- und Wirtschaftsrecht an der Universität St.Gallen.
Mehr noch: «Selbst wenn Geschädigte ihren widerrechtlich erlittenen Schaden hieb- und stichfest bewiesen haben, kann eine Schweizer Konzernmutter sich immer noch von der Haftung befreien, indem sie ihre angemessene Sorgfalt nachweist». Ein Schweizer Unternehmen haftet also nur, wenn ihm selber ein Fehler vorzuwerfen ist.
«Es wäre auch aus praktischer Sicht unrealistisch, vom Geschädigten den Beweis zu erwarten, dass das Unternehmen intern Sorgfalt hat walten lassen», sagt Wildhaber, «liegen die Beweise dafür doch in den Büros und auf den Servern der Konzernzentrale.»
Isabelle Wildhaber ist eine von vielen Professorinnen und Juristen, die ob der Argumentationslinie, auch auf Bundesebene, irritiert ist. So schrieben diverse Richter, Professoren und Anwälte in einem Gastkommentar in der NZZ, dass mit der Beweislastumkehr jeglicher Boden ernsthafter rechtlicher Analysen verlassen werde.
Ein weiterer, oft gehörter Vorwurf betrifft die vermeintliche Einzigartigkeit der Haftungsregeln. Die Schweiz würde Neuland betreten, kein anderes Land dieser Welt hätte so strenge Regeln, so die gängige Argumentation.
Bei genauerer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass auch diese Behauptung nicht haltbar ist. Die Geschäftsherrenhaftung ist bei weitem kein Schweizer Unikum, sondern auch im Ausland ein Grundpfeiler des Haftpflichtrechts.
Seit 2017 hat Frankreich die strengsten nationalen Regeln, da neben der zivilrechtlichen Haftung auch Strafzahlungen möglich sind. Allerdings betrifft das nur Unternehmen ab 5000 (für französische Unternehmen) bzw. 10'000 Mitarbeitenden (für ausländische Unternehmen). Da aber hauptsächlich Grosskonzerne von diesen Gesetzen betroffen sind, befindet sich das «Loi Vigilance» rein gesetztechnisch trotzdem bereits eine Stufe über der KVI.
Für einen sachgerechten Rechtsvergleich muss man jedoch nicht nur das Gesetz an sich anschauen, sondern auch einen Blick über den Tellerrand werfen. Was für Hürden hat eine Person, die eine Klage einreichen will? Kann man nur die Muttergesellschaft mit Sitz in der Schweiz verklagen, oder auch Tochterunternehmen? Was für eine Rechtsprechung gilt in anderen Ländern?
In Grossbritannien gibt es beispielsweise jetzt schon Klagemöglichkeiten, in den USA werden dank dem «Alien Tort Claims Act» immer wieder riesige Sammelklagen gegen Grosskonzerne eingereicht. In der EU stehen Bemühungen, Sorgfaltspflichten im Sinne der KVI auf EU-Ebene einzuführen, auf der Zielgeraden. Eine konkrete Vorlage der EU-Kommission ist für das erste Quartal 2021 geplant. Damit hätten alle EU-Mitgliedstaaten gleichwertige Regeln wie sie die Schweiz bei einer Annahme der KVI hätte.
«Der Bundesrat schreibt im Abstimmungsbüchlein, dass die Schweiz mit der KVI einen Alleingang antreten würde», sagt Gregor Geisser, Rechtsgutachter des Initiativkomitees. «Führt man einen umfassenden Rechtsvergleich mit Ländern wie Frankreich, Grossbritannien oder Holland durch, dann kommt man zum Schluss: Das ist eine Falschaussage». Die Schweiz würde sich mit Annahme der KVI im vorderen Mittelfeld eingliedern.
Zum Schluss wird von hiesigen Konzernen immer wieder die Sorge geäussert, dass die Schweiz im Falle einer Annahme der Initiative zu einem Klagemekka verkommt. Ähnlich wie in den USA würde eine ganze helvetische Klageindustrie entstehen.
Auch hier lohnt sich wieder der Vergleich mit dem Ausland. So ist es in Frankreich, in den drei Jahren seit Einführung des «Loi Vigilance», zu keiner einzigen Schadenersatzklage gekommen. Grund dafür sind auch dort die hohen praktischen Hürden für eine Klage, wie etwa die Beweiserbringung oder die Kosten. «Es ist extrem schwierig, einem Unternehmen einen von ihm verursachten Schaden nachzuweisen», sagt Rechtsanwalt Geisser.
Wenn in einer Mine im Ausland Emissionsgrenzwerte überschritten werden und dabei Personen zu Schaden kommen, dann müssen Geschädigte zum Beispiel mittels Autopsieberichten einen kausalen Zusammenhang beweisen. Das ist extrem aufwändig, denn diese Beweise müssen von Privatpersonen erbracht werden. Auch birgt eine solche Klage ein enormes finanzielles Risiko. Wird eine Klage abgewiesen, bleiben die Kläger auf allen Prozesskosten sitzen.
Auch die Zivilrechtsexpertin und Professorin Tanja Domej von der Universität Zürich sagte gegenüber dem «Tagesanzeiger», dass solche Klagen nach einem Ja zur Initiative an einer Hand abzuzählen wären, namentlich da in der Schweiz keine Sammelklagen US-amerikanischen Typs existieren.
«Diese Haftungsregeln sind eigentlich mehr von präventiver Natur», sagt Gregor Geisser. Es sei wie bei der Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Autobahn: «Die Geschwindigkeitsbegrenzung von 120 hält die allermeisten Autofahrer davon ab, überhaupt mit 140 zu fahren.»
Auch wird mit der Möglichkeit, Konzerne in der Schweiz aufgrund der Tätigkeiten ihrer Tochtergesellschaften im Ausland zu verklagen, kein «Werteimperialismus» betrieben. Die KVI betrifft nur Schweizer Unternehmen. Vor Gericht gilt jedoch nicht etwa das Schweizer Arbeitsgesetz, sondern es orientiert sich an internationalen Leitprinzipien, wie dem «Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte» der UNO. Das ausländische Tochterunternehmen haftet also unverändert im Ausland und nach ausländischen Vorgaben. Jeder sorgt in seinem eigenen Haus für Ordnung. Das ist nicht «Werteimperialismus», sondern das Gegenteil: Verantwortung.
Da wird mir schlecht.