Es gibt Situationen, denen gehen Menschen am liebsten aus dem Weg. Telefonate mit Marktforschungsinstituten gehören in diese Kategorie. Gewiss, man wahrt Contenance, macht vielleicht sogar spontan mit, denkt sich aber insgeheim: Hätte ich es doch nur klingeln lassen.
Damit ist sogleich der Kern des Problems erfasst, mit dem sich Marktforscher eigentlich schon immer herumschlagen mussten, das sich in den letzten Jahren aber akzentuiert hat: die generelle Unlust der Leute, an Umfragen teilzunehmen.
Grundsätzlich ist zu beobachten, dass die von der klassischen Marktforschung beackerten Felder immer unfruchtbarer werden. Der Anteil der Leute etwa, die man über das Festnetz erreichen kann, liegt noch bei gerade mal 50 Prozent.
Hinzu kommt, dass die Zahl der Leute abnimmt, die in öffentlichen Verzeichnissen eingetragen sind, und vor allem Jüngere auf einen fixen Telefonanschluss verzichten.
Zwar können Handynummern per Zufallsgenerator erzeugt werden, doch ist die Teilnahmebereitschaft für Umfragen am Mobiltelefon noch geringer als beim Festnetz.
Schweizer Forschungsinstitute beklagen unisono, dass immer weniger bereit sind, bei Umfragen mitzumachen. Bisweilen fallen die Antwortraten unter zehn Prozent. Kritiker monieren, dass man bei derart tiefen Teilnahmequoten nicht mehr von einer repräsentativen Auswahl der Bevölkerung sprechen könne. Unlängst haben die ersten klassischen Marktforschungsinstitute deshalb damit begonnen, sich der neuen Realität anzupassen.
Im Oktober 2017 schloss etwa GfK Switzerland sein Telefonlabor in Hergiswil NW. Seither verfügt das grösste Marktforschungsinstitut der Schweiz über kein eigenes Callcenter mehr.
Institutsleiter Ludovit Szabo begründete den Schritt mit rapide schwindenden Aufträgen. Zudem wollten immer mehr Kunden auf Online-Befragungen umstellen. Das hätte zur Folge, dass «die Durchführung von Telefonbefragungen nicht mehr rentabel» sei.
Andere Marktforscher ergriffen weniger drastische Massnahmen, richteten sich jedoch neu aus. Das Link Institut mit Sitz in Luzern etwa kündigte vor zwei Jahren seine Strategie 2021 an, um das Unternehmen zu einem «europäischen Anbieter von skalierbaren, digitalen Dienstleistungsprodukten weiterzuentwickeln».
Glaubt man Beobachtern, sind dies jedoch lediglich Vorboten dessen, was die Marktforschung in den kommenden Jahren erwartet. Der Druck auf die Institute habe stark zugenommen, auch aufgrund der Diskussionen um Echtzeit-Erhebungen mithilfe von Big Data, sagt Andreas Woppmann, der unter anderem Marktforschungsmethoden an der Universität Wien lehrt.
Die Kunden wollten immer schnellere Ergebnisse. «Das mögen viele Marktforscher bedauern, aber es ist zu bezweifeln, dass sich dieses Rad zurückdrehen lässt und die Institute in Zukunft wieder mehr Zeit und Geld für die Qualitätssicherung erhalten.»
Ein Ausdruck des rasanten Wandels ist der wachsende Erfolg von sogenannten offenen Onlineumfragen, wie sie beispielsweise der Verlag Tamedia auf seinen Nachrichtenportalen durchführt.
Offen bedeutet hierbei, dass die Befragten nicht Teil einer fixen Onlinestudie sind, sondern dass im Prinzip jeder mitmachen kann, der die Tamedia-Seiten frequentiert. Zu den Stärken dieser Umfragen gehören vor allem die grossen Teilnehmerzahlen, die sich in der Regel zwischen 10'000 und 30'000 bewegen.
Schwächen zeigen sich dagegen in Form von Verzerrungen bei der Bevölkerungsabbildung, die auch durch nachträgliche Gewichtung nicht immer korrigiert werden können, sowie möglichen Einflussnahmen durch bestimmte Interessengruppen, etwa Abstimmungskomitees. Für Lucas Leemann, Co-Leiter der Firma LeeWas, welche die Tamedia-Umfragen durchführt, steht dennoch fest: «Die Telefonlabore dürften bald verschwinden, auch weil Onlineumfragen besser werden.»
Der wachsende Druck von Kundenseite stellt die meisten etablierten Institute vor ein Dilemma. Während das Telefon als Umfragemittel stetig an Attraktivität verliert, gilt es in gewissen Bereichen – allen voran bei politischen Themen – noch immer als methodischer Gold-Standard.
«Die Qualität einer Befragung hängt von der Zusammensetzung der Zielgruppe ab beziehungsweise davon, wie gut diese die Grundgesamtheit widerspiegelt. In vielen Fällen ist es nach wie vor so, dass die verschiedenen Bevölkerungsschichten via Telefon am besten abgedeckt werden können», sagt Susan Shaw, Präsidentin des Verbandes Schweizer Markt- und Sozialforschung (VSMS).
Lukas Golder, Co-Leiter von GfS Bern, verdeutlicht dies an einer Erhebung des renommierten US-Statistikers Nate Silver: Von den 20 besten Wahlumfrage-Instituten in den USA arbeiten laut Silver alle ausschliesslich mit Telefonumfragen. Hingegen zeigen laut Golder alle Tests mit Onlineumfragen wesentliche Probleme bei der Abbildung des Meinungsverlaufs und mit Effekten der Mobilisierung.
Branchenkollegen pflichten dem Politologen bei. «Tendenziell wird immer mehr Unterhaltungs-Marktforschung und immer weniger ernste Marktforschung betrieben», sagt etwa Roland Huber, Leiter des Adligenswiler Instituts Demoscope. «Wer lieber mit Meinungen statt Fakten argumentiert, sucht Bestätigung da, wo es einfacher, billiger, schneller möglich ist. Oft wird dabei Quantität mit Qualität verwechselt.»
Die Marschrichtung vonseiten der Kunden ist allerdings klar: Onlineumfragen sind gefragter, nicht nur wegen der höheren Teilnahmequoten, sondern auch wegen der tieferen Kosten. Zusätzlich kommen auf die Branche neue Herausforderungen in Form von Big Data und Künstlicher Intelligenz zu. Bisher sei zwar erst wenig disruptives Potenzial erkennbar, sagt Golder von GfS Bern.
Doch könnte sich dies schon bald ändern. Für VSMS-Präsidentin Shaw geht die Zukunft jedenfalls in Richtung einer Verschmelzung von erhobenen Daten (primär Onlineumfragen) und bereits vorliegenden Daten (Nutzerdaten im Internet). Das Telefon dürfte in dieser Zukunft höchstens noch eine Nebenrolle spielen – zum Missfallen der etablierten Institute. (bzbasel.ch)