Liebe Leser, zunächst ein Geständnis: Das hier ist nicht so herausgekommen, wie ich mir das vorgestellt hatte. Am Mittwochmorgen malte ich mir das Verfassen dieser Reportage als Qual der Wahl aus: Ein Heft voller Gesprächsnotizen, ein Handy voller Videointerviews.
Die Stimmung rund um den Paradeplatz werde ich auskundschaften, so kündigte ich es in der Ressort-Sitzung grossmundig an. Wie hat man am Finanzplatz Zürich die Schockwellen verarbeitet, die der Minusrekord an der Wall Street am Montag auslöste? Wie schliefen die Damen und Herren, welche den Wohlstand der Welt verwalten, in der Nacht auf Dienstag?
Also verliess ich vor dem Mittag die Redaktion mit Ziel Bahnhofstrasse. Mikrofon und Selfie-Stick für Interviews hatte ich in der Mappe, das Notizheft in der Hand. Der Plan: Banker finden, Banker fragen, Quotes abjagen.
Es kam anders.
Nach 45 Minuten voller Enttäuschungen beginnen meine Finger, vor Kälte klamm zu werden. Selbstzweifel machen sich breit. Liegt's an der Skijacke, die ich trage? Warum hast du dich nicht für den schwarzen Mantel entschieden, du Trottel, wo doch alle Banker schwarze Mäntel tragen? Das hätte Vertrauen geschaffen, Nähe erzeugt, Gespräche ermöglicht. Soll ich die Mütze ausziehen (aber ich habe ja bereits kalte Hände!), wo doch die meisten Banker ohne Mütze herumlaufen, damit die Gelfrisuren nicht kaputt gehen?
Ich belasse es beim bestehenden Tenue, aber weite meinen Radius aus. Vielleicht sind die Leute mit etwas Distanz zum Paradeplatz gesprächiger. Ein rauchender Franzose lässt diese Hoffnung rasch platzen: «Désolé, je ne peux rien vous dire.»
Nächster Stopp: Der Kiosk beim Coop Bärengasse, im Erdgeschoss eines UBS-Bürogebäudes. Welchen besseren Index für die Nervosität des Finanzplatzes kann es geben, als die Zigarettenverkäufe? Doch Fehlanzeige: Beide Mitarbeiter sind nur Aushilfskräfte, sie waren weder montags noch dienstags vor Ort. Bei Frido von «Frido’s Marroni» ist auch nichts zu erfahren. Seine Umsatzzahlen hängen vom Wetter ab, nicht vom Dow Jones.
Nach einer Stunde notorischer Erfolglosigkeit: ein Hoffnungsschimmer. Strategisch geschickt stelle ich mich in den Laufweg zweier zackig dahin schreitender Anzugsträger. Ich fixiere den einen (dunkler Mantel, Glatze, schwarzer Hut) mit dem Blick, mit dem Spendensammler in der Adventszeit einem klar machen, dass man jetzt dann gleich angesprochen wird.
Der schwarze Hut verlangsamt seine Schritte, macht aber keine Anstalten, stehen zu bleiben. Mir bleibt wenig Zeit: «Grüezi, ich bin Journalist, wie ist die Atmosphäre nach dem Börsencrash?» presse ich heraus. Er geht an mir vorbei, aber dreht dabei den Kopf und ruft mir zu: «Fantastisch. Stichwort Investment Opportunity. Correction Territory.»
Das wird sofort im noch jungfräulichen Notizheft notiert. Die vom Schnee angenässte Seite will die Kugelschreiberfarbe nicht so recht annehmen. Doch das böse Omen lässt die junge Glückssträhne nicht reissen. Ein blonder, ca. 30-jähriger Mann zögert zunächst. Dann ist er bereit, aber: «Nur ohne Foto, ohne Namen.»
Überrascht worden sei man schon am Montagabend: «Die Angst vor der Inflation ist vielleicht ein bisschen grösser geworden, aber die war ja in den letzten Jahren immer vorhanden.» Doch nervös sei man nicht. Die Beruhigung kam in Form einer Devise der Chef-Etage: «Buy the dip» hiess es. Also den Kurssturz für die Jagd nach Aktien-Schnäppchen zu nutzen.
Für ein Statement mit Name und Foto, geschweige denn ein Video-Interview, findet sich weiterhin niemand. Ich passe noch einen Bündner mit wetterfester Igeli-Frisur ab, der im Rechtsdienst tätig ist. «Bei den Kollegen an der Front rufen schon etwas mehr besorgte Kunden an als sonst», weiss er zu berichten. Aber an die Krise glaube hier niemand. «Nur Marc Faber sagt, die Börsen würden weltweit 30 Prozent an Wert verlieren. Aber den nennt man ja auch Dr. Doom».
Nachdem mir noch eine elegant gekleidete Kundenberaterin mit hochhackigen Lederstiefeln und Leopardenprint-Foulard – in der Hand eine Sprüngli-Tüte – bestätigt, der Kurssturz werde nicht den Auftakt einer Finanzkrise à la 2008 einläuten, gebe ich auf. Ich flüchte vor der Kälte in die Höhle des Löwen: Ins Café «al Leone» im Erdgeschoss des Gebäudes, das einst die Bank Leu beheimatete. Sie ging vor sechs Jahren nach 257 Jahren stolzer Geschichte in der Credit Suisse auf.
Der Kaffee wärmt die klammen Finger. Am Nebentisch zwei distinguierte ältere Herren, ehemalige Bankiers. Sie kombinieren mit bewundernswerter Geschmackssicherheit Hemd, Hose, Pullover, Schuhe und Socken, ohne auf die Farbe Schwarz zurückgreifen zu müssen. Ihr Zürcher Dialekt beinhaltet noch jene altmodischen Feinheiten, die man heute kaum mehr hört. Für «uns» sagen sie «öis» statt «ois».
Zunächst unterhalten sie sich über Elon Musks Tesla-Rakete. «Unglaublich, diese Hybris. Der hält sich für den neuen Messias.» Dann beklagen sie sich darüber, dass die CEOs der Grossbanken nicht mehr Deutsch sprechen: «Der Tessiner von der UBS nicht und der Afrikaner von der Credit Suisse schon gar nicht.» Nur, dass sie dabei nicht das Wort Afrikaner verwenden. Früher sei das ganz anders gewesen. Da habe man reformiert sein müssen und in der Armee Karriere gemacht haben, damit man bei der Bank etwas werden konnte.
Der eine macht sich auf den Weg: «Tschüss Heinz», «Tschau Bruno»*. Heinz vertieft sich wieder in seine Tageszeitung. Bald schon betritt Ruedi das «al Leone», der nächste alte Bekannte aus besseren Zeiten. Heinz schaut hinter seiner Zeitung hervor: «Und, hast du nachgeschaut, wie in New York die Futures stehen?»
Ruedi hat nicht nachgeschaut. Sorgen macht man sich noch keine am Paradeplatz. Aber nachschauen könnte man ja trotzdem mal. Wie sie stehen, die Futures in New York.
*Alle Namen geändert.