Zeitpunkt: Halbe Stunde vor der Prüfung.
Jeglicher Groll, der während der Lernphase in die Vorbereitung investiert wurde, ist zu diesem Zeitpunkt höchstens sekundär. Jetzt willst du es hinter dich bringen, deine Dämonen bezwingen, das System übertölpeln. Ändern kannst du nichts mehr. Der Tag X, dein persönlicher D-Day, ist da und du bist gewillt dich ihm zu stellen.
Zeitpunkt: Wenn die Prüfung verteilt wird.
Was ist, wenn tatsächlich gerade das abgefragt wird, was du beherrschst? Was, wenn dir beim Lesen der Frage plötzlich alles klar wird? Sein könnte es. Und daran glaubst du. Ob es sich hierbei um eine hormonell unterstützte Schadensbegrenzung des Körpers handelt, weiss niemand. Ausser du. Ganz tief in dir drin.
Zeitpunkt: Lesen der ersten beiden Aufgaben.
Das eine oder andere Wort, das du nicht kennst, in Kombination mit Wörtern, die du kennst, aber nach Abgleich mit deinem Lernstand nichts Gutes verheissen. Die Skepsis keimt berechtigterweise auf, vermag jedoch noch nicht das Ausmass einer vagen Vorahnung übersteigen. Anstatt in Panik verfällst du in einen paralytischen Zustand skeptischer Betroffenheit.
Zeitpunkt: Während dem Lesen der restlichen Aufgaben.
Erste bekannte Begriffe kreuzen dein lesendes Geäuge und du beginnst so etwas wie Hoffnung zu schöpfen. Obwohl immer noch ein Opfer der Umstände, so frönst du einen kurzen Moment der Illusion, nicht nur ein Spielball des Schicksals zu sein.
Zeitpunkt: Nach dem Lesen der restlichen Aufgaben.
So viel war jetzt nicht dabei, was du verstanden hättest. Die 50%-Marke, die es zu erreichen gälte, ist rechnerisch zwar nötig, jedoch nur ansatzweise als realistisch zu erachten. Wie ein unverdienter Gegentreffer in der 90. Minute auf dem Fussballplatz fühlst du dich nun im Stich gelassen – von Dike, von Tyche, von Nike und – ja, weisst du was – auch vom Leben. Vom Leben als Ganzes, als Ansammlung misslicher Umstände.
Zeitpunkt: Bevor du den Stift erstmalig ansetzt.
Was, wenn ein Samen gesät wird, der sich potenziell zu einer kräftigen, früchtetragenden, überraschend schöner oder zumindest mal genügenden Pflanze entwickelt? Diese botanische Allegorie verfolgend setzt an diesem Punkt die Maxime ein, überall einfach mal das hinzuschreiben, was schon gegeben ist. Wer weiss, was sich daraus entwickelt.
Zeitpunkt: Wenn du nicht weisst, wo du den Stift überhaupt ansetzen könntest.
Du merkst: Der gefasste Vorsatz war gut. Die Umsetzung ist allerdings ein anderes Kapitel. Ein schlecht geschriebenes, unmöglich mühsam verfasstes Kapitel. Diese Enttäuschung ist schwer zu verkraften und mündet dementsprechend in ehrlicher, bitterer Enttäuschung.
Zeitpunkt: Nach den ersten Blicken nach links und rechts.
Zur Enttäuschung gesellt sich schnell auch Panik dazu. Dies nachdem du in einem Akt demonstrativer Resignation dein Umfeld mit zynischen Blicken eingedeckt hast. Quelle der Panik ist hierbei die fehlende Empathie, die keinen Platz neben der offensichtlich fachkundigen Emsigkeit deiner Mitstudierenden hat.
Zeitpunkt: In einer Minute der selbstverschriebenen Ruhe.
Paradoxerweise schleicht sich in diesen kafkaesken Gefühlszustand plötzlich ein ganz neuer, unverblümter Optimismus ein. Was, wenn andere Lebensentwürfe ebenfalls Genugtuung bereithielten? Eine neue Welt tut sich auf.
Zeitpunkt: Rest der Prüfung.
Vom abfallenden Druck befreit, redest du dir ein, dass es schon irgendwie gehen wird. Mutige Thesen werden aufgestellt, wilde Annahmen getroffen, Halbwissen als Wissen verkauft.
Zeitpunkt: Direkt nach der Abgabe.
Ein flaues Gefühl durchdringt deinen Körper, sobald der Prüfungsbogen deiner Obhut entrissen wird. Klar, eine Spur Erleichterung ist sicherlich mit dabei. Dennoch überwiegt die Last der Ungewissheit, die sich mit eiserner Ausdauer in dein Knochenmark frisst. Selbstzweifel werden gestreut und Existenzfragen geerntet.