Tom Lüthi (31) hat den Kampf um den WM-Titel gegen einen starken Gegner verloren. Der WM-Titel von Franco Morbidelli (23) ist hoch verdient. Er hat 8 von 17 Rennen gewonnen. Aber er war im Dauerwettbewerb Titelkampf trotzdem nicht unbesiegbar.
Tom Lüthi hatte lange Zeit beste Voraussetzungen, um die zweitwichtigste Töff-WM zu gewinnen. Die Konstanz, das Glück und das Team. In acht der zehn ersten Rennen fuhr er aufs Podest. Es gelang Franco Morbidelli trotz acht Siegen nicht, den erfahrenen Schweizer vor der Schlussphase der Saison entscheidend zu distanzieren. Auch er zeigte Nerven. Beim Heimrennen in Misano stürzte er, Tom Lüthi kam hinter Dominique Aegerter ins Ziel. Der Vorsprung des Italieners schrumpfte von 29 auf 9 Punkte. Die WM war nach diesem Eidgenössischen Doppelsieg wieder offen.
Aber zu diesem Zeitpunkt trug das Team von Tom Lüthi bereits den Keim des dramatischen Scheiterns in sich. Motorradrennsport ist Teamsport. Das Talent und die mentale Belastbarkeit des Piloten spielen eine zentrale Rolle. Aber nur dann, wenn er ein perfektes Umfeld hat. Dazu gehört, natürlich, die technische Betreuung.
Damit alles funktioniert und der Pilot seine maximale Leistung abrufen kann, braucht es absolute Ruhe im Team und eine starke Vertrauensbasis. In einem Sport, der nicht den kleinsten Fehler verzieht, in einem Sport, in dem der kleinste Fehler den Piloten in Lebensgefahr bringt, ist die totale Konzentrationsfähigkeit der Techniker und des Piloten eine unabdingbare Voraussetzung zum Erfolg. Nicht umsonst wird im Zusammenhang mit dem Umfeld nicht von einem Rennteam gesprochen. Sondern von einer Familie. Grosse Piloten haben perfekte Teams. Grosse Piloten machen manchmal perfekte Teams.
Tom Lüthi war nicht mehr dazu in der Lage, sein Team zusammenzuhalten. Das ist wahrlich nicht sein Fehler. Es ist eine Ironie des Schicksals: sein Aufstieg in die Königsklasse MotoGP in der nächsten Saison, die Erfüllung seines Buben- und Karriere-Traumes, hat letztlich sein Team und damit seine Titelträume ruiniert.
Tom Lüthis Abgang, seit Mitte August offiziell, hat Teamchef und – Besitzer Fred Corminboeuf die finanzielle Basis seines Geschäftes entzogen. Mit Tom Lüthi gehen auch die Sponsoren. Der Teamchef versucht seither verzweifelt, das Geld für die nächste Saison zusammenzubringen. Er hat deshalb auf die Reise zu den drei Übersee-GP in Japan, Australien und Malaysia verzichtet. Die Suche nach Geldgebern, die Sicherung der Zukunft ist jetzt wichtiger als die letzten Rennen des Fahrers, der ihn sowieso verlässt. Jeder ist sich selbst der Nächste.
Ein Team, das den WM-Titel holen wollte und dessen Fahrer unter maximaler Belastung stand, reiste führungslos ans andere Ende der Welt. Gerade bei solchen Übersee-Expeditionen, bei denen der Fahrer und sein Dienstpersonal nicht nur wochenlang in Stresssituationen arbeiten, sondern auch noch zusammen reisen und speisen, sind Führung und Zusammenhalt der Gruppe entscheidende Faktoren. Wie im Mannschaftssport.
Cheftechniker Gilles Bigot, Lüthis wichtigste Bezugsperson auf dem Rennplatz, musste sich nun um alles kümmern. Das ist ungefähr so absurd, wie wenn der Torhüter eines Hockeyteams sich auch noch während den Playoffs um die Aufgaben des Materialwartes zu kümmern hat.
Hinzu kommt, dass die düsteren Zukunftsaussichten die Vertrauensbasis im Team zerstört haben. Dass Tom Lüthis Teamkollege Jesko Raffin seine hoffnungsvolle Karriere im Alter von 21 Jahren wohl beenden muss, weil Teamchef Fred Corminboeuf nicht dazu in der Lage ist, seinen vertraglichen Verpflichtungen für nächste Saison nachzukommen, ist ein weiterer Störfaktor.
Eine optimale technische Vorbereitung und Betreuung des Piloten war unter diesen Umständen nicht mehr möglich. Tom Lüthi war der mentalen Belastung nicht mehr gewachsen. Statt in der Geborgenheit einer verschworenen Gemeinschaft Kräfte zu tanken, kämpfte Tom Lüthi zuletzt im luftleeren Raum um seine letzte Titelchance. In einem führungslosen Umfeld mit unübersehbaren Auflösungstendenzen, das ihm und seinem Cheftechniker Energien entzog. Vor einem Jahr hat er in einem intakten Team zwei der drei Übersee-Rennen gewonnen.
Die Organisation der drei war an der Grenze der Verantwortungslosigkeit. Das Team brachte seinen Fahrer unter diesen Umständen in Lebensgefahr. In den drei Übersee-GP in Japan, Australien und Malaysia ist Tom Lüthi, Rennen und Trainings zusammengezählt, öfter gestürzt als zuvor während der ganzen Saison. Es war ein Versagen auf der ganzen Linie.
Noch nie in der neueren Geschichte des Motorradrennsportes sind die Titelchancen eines Fahrers auf so dilettantische Art und Weise ruiniert worden.
Tom Lüthi beendet die zweitwichtigste WM im Motorradrennsport nun zum zweiten Mal hintereinander auf dem zweiten Schlussrang. Der sportliche Wert dieser Leistungen kann nicht hoch genug bewertet werden. Er ist nach Luigi Taveri der grösste Schweizer Rennfahrer aller Zeiten.
Zugleich ist die Art und Weise, wie seine Titelchancen im Herbst 2017 ruiniert worden sind, ohne Beispiel in unserem Motorsport. Zum Glück ist Tom Lüthi bei dieser abenteuerlichen Expedition einigermassen heil davongekommen. Seine Sturzverletzungen werden heilen. Die Polemik um ruinierte Titelchancen wird im helvetischen Motorradrennsport noch einige Zeit anhalten.