Die Entscheidung kam überraschend. Noch Anfang März sagte Präsident Herbert Hainer: «Wir sind unglaublich happy mit ihm, er ist ein klasse Trainer und wir planen eine lange Zukunft mit ihm.» Drei Wochen später ist Julian Nagelsmann als Bayern-Trainer entlassen. Thomas Tuchel wird das Amt übernehmen und gegen seinen Ex-Verein Borussia Dortmund erstmals an der Seitenlinie der Münchner stehen. Doch so überraschend die Entscheidung der Bayern-Führung ist, es war die richtige. Und dafür gibt es mehrere Gründe.
Wie bei jeder Trainer-Entlassung müssen auch bei Nagelsmann die Resultate betrachtet werden. Bayern hat in diesem Jahr zehn Punkte auf Konkurrent Borussia Dortmund verloren, seit der Niederlage gegen Bayer Leverkusen vom letzten Sonntag ist der Rekordmeister nicht mehr Tabellenführer. Letztmals stand er in der Saison 2011/12 nach 25 Runden mit weniger Punkten (51) da als zum jetzigen Zeitpunkt (52). In jener Saison wurde der BVB am Ende Meister.
Der FC Bayern hat Trainer Julian Nagelsmann freigestellt. Zu dieser Entscheidung kamen der Vorstandsvorsitzende Oliver Kahn und Sportvorstand Hasan Salihamidžić in Abstimmung mit Präsident Herbert Hainer. Nachfolger von Nagelsmann wird Thomas Tuchel.
— FC Bayern München (@FCBayern) March 24, 2023
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Doch es waren nicht nur die Resultate, sondern das allgemeine Auftreten der Mannschaft, das die Verantwortlichen störte. Nach dem 1:2 in Leverkusen tobte Sportdirektor Hasan Salihamidzic: «So wenig Antrieb, Mentalität, Zweikampfführung und Durchsetzungsvermögen habe ich selten erlebt.» Tatsächlich erinnert der Klub in dieser Hinsicht wenig an das dominante Bayern der letzten Jahre, das zehn Meisterschaften in Folge gewann. In dieser Saison zeigte es bisher unbekannte Schwächen und liess den Konkurrenten aus Dortmund wieder ins Titelrennen eingreifen.
Unter Nagelsmann fehlte den Bayern die Konstanz. Trotzdem hätte der Trainer die Ergebniskrise wohl selbst ausbaden dürfen, wäre seine erste Saison nahe seiner Heimat erfolgreicher verlaufen. Zumal in der Champions League bisher alle acht Partien gewonnen werden konnten und im Achtelfinal PSG zweimal besiegt wurde. Doch der 35-Jährige war bereits angezählt. Im letzten Jahr gewann Nagelsmann mit München zwar die Meisterschaft, erlebte im DFB-Pokal und der «Königsklasse» aber zwei für den erfolgsbesessenen Klub peinliche Pleiten. Im Cup unterlag er in der 2. Runde 0:5 gegen Mönchengladbach, international war im Viertelfinal gegen Villarreal Schluss. Diese Niederlagen waren noch in den Hinterköpfen der Führungsriege.
Dazu kam eine gewisse Arroganz und Unnahbarkeit, die Nagelsmann an den Tag legte. Oftmals schien er sich selbst inszenieren zu wollen. Nach der Niederlage in Mönchengladbach, als Dayot Upamecano früh die Rote Karte sah, brüllte Nagelsmann, als er aus der Schiedsrichter-Kabine kam: «Dieses weichgespülte Pack!» Dass in der Mixed-Zone Kameras und Mikrofone stehen, wusste er natürlich genau.
Nagelsmann wollte selbst der Star sein, selbst im Mittelpunkt stehen. Auch das dürfte einen Einfluss auf seine teils schlechten Beziehungen zu einigen Spielern gehabt haben. Unter anderem soll der zweimalige Weltfussballer Robert Lewandowski sich nicht besonders gut mit dem Trainer verstanden haben und auch deshalb im letzten Sommer gewechselt sein. Auch mit Captain Manuel Neuer kam Nagelsmann nicht wirklich zurecht. Joshua Kimmich hingegen galt als Lieblingsschüler des Trainers, was nicht alle gut fanden. Verliert der Trainer seine Mannschaft, ist dies das Schlimmste, was ihm passieren kann.
Und gerade das liessen die Auftritte in der Bundesliga in diesem Jahr vermuten. Oftmals schien der letzte Einsatz zu fehlen, die Aufopferungsbereitschaft, die Salihamidzic ansprach. Was beim Sportdirektor und Teilen der Mannschaft ausserdem nicht gut angekommen sein dürfte, waren die ständigen Systemwechsel, die Nagelsmann zuletzt vornahm. Diesen fiel zeitweise auch Neuzugang João Cancelo, den Salihamidzic im Winter noch euphorisch angepriesen hatte, zum Opfer.
Vor Konfrontationen fürchtete sich Nagelsmann nicht – was grundsätzlich keine negative Eigenschaft ist – jedoch suchte er diese wohl etwas zu häufig, und passte damit nicht unbedingt zu den Bayern. Die grössten Erfolge feierten bei den Münchnern in diesem Jahrtausend bodenständige Coaches wie Ottmar Hitzfeld, Jupp Heynckes oder Hansi Flick. Weder Carlo Ancelotti noch Pep Guardiola schafften das ultimative Ziel des Gewinns der Champions League.
Auch zu den Medien pflegte Nagelsmann ein schwieriges Verhältnis, das ihm womöglich auch zuletzt wieder zum Verhängnis wurde, als ein «Maulwurf» der «Bild» Interna aus der Kabine zuspielte. Es handelte sich um ein Papier, auf dem der Matchplan für das Spiel gegen Bochum Anfang Februar abgedruckt war. Es war nicht das erste Mal, dass heikle Informationen aus dem Team an die Öffentlichkeit kamen. Ein weiteres Indiz dafür, dass Nagelsmann die Kabine nicht zu hundert Prozent im Griff hatte.
Vielleicht war der Deutsche, der 2016 im Alter von 28 Jahren Trainer von Hoffenheim wurde und anschliessend zwei Jahre bei RB Leipzig angestellt war, noch zu jung und unerfahren für die Stelle. Vielleicht hat er den Job als Trainer des FC Bayern München, bei dem die Aufmerksamkeit im Vergleich zu anderen Bundesliga-Klubs um ein Vielfaches grösser ist, unterschätzt. In jedem Fall war er dieser Aufgabe zu diesem Zeitpunkt nicht gewachsen.
Und deshalb engagieren die Verantwortlichen um Salihamidzic, Oliver Kahn und Co. in Thomas Tuchel nun einen Trainer, der in noch grösseren Städten als München gearbeitet hat. Paris Saint-Germain führte er in den Champions-League-Final, mit Chelsea gewann er diesen im Mai 2021 gar. Tuchel geniesst ein hohes Standing bei vielen seiner ehemaligen Spieler und auch den Fans. Gianluigi Buffon, der bei PSG unter Tuchel spielte, bezeichnete den 49-Jährigen kürzlich als einen der intelligentesten Menschen, den er kenne. In London trauern viele Anhängerinnen und Anhänger der «Blues» Tuchel noch immer hinterher.
Die Entlassung von Nagelsmann mag aufgrund der noch kürzlich geäusserten Unterstützung respektlos und aufgrund der hohen Abfindung, die nun fällig wird, überheblich wirken, doch der Schritt ist der richtige. Zumal Nagelsmann aller Voraussicht nach spätestens im Sommer hätte gehen müssen. Dann wäre die Abfindung gemäss Medienberichten um einiges geringer ausgefallen, aber das interessiert die Bayern-Verantwortlichen kaum. Ihnen geht es um die Gegenwart – wie allen Fussballklubs. Und da ist Tuchel die bessere Lösung.
Auch er ist keine einfache Persönlichkeit, auch er wird wohl ab und an mit den Verantwortlichen in München oder einigen Spielern aneinandergeraten. Doch im Gegensatz zu Nagelsmann, der bisher nur die Meisterschaft im letzten Jahr gewonnen hat, hat Tuchel bewiesen, alle Titel gewinnen zu können. Ausserdem wurde er 2021 von der FIFA als Trainer des Jahres ausgezeichnet. Aus diesen Gründen waren die Bayern nicht die einzigen, die Tuchel gerne als Trainer gehabt hätten. Es wurde bereits von Interesse von PSG, Juventus oder Real Madrid berichtet, auch in England tauchte er immer wieder als Kandidat für freie Jobs auf. Deshalb mussten die Bayern besser früh als spät zuschlagen.
Zumal aktuell der perfekte Zeitpunkt ist, um für die Schlussphase der Saison noch einmal neue Impulse zu setzen. Nach der Nati-Pause kommt erst der Titelkampf in der Bundesliga und dann Mitte April die beiden Viertelfinal-Duelle gegen Manchester City. Dass er nicht viel Anlaufzeit braucht, hat Tuchel bei Chelsea bewiesen, als er 10 der ersten 14 Spiele gewann und keines davon verlor. Vier Monate nach seinem Amtsantritt war Chelsea Champions-League-Sieger. Einen ähnlich rasanten Auftakt erhofft sich nun auch Bayern.
Denn der Wechsel von Nagelsmann zu Tuchel erfolgt nicht, weil man ersterem nicht zugetraut hat, die Meisterschaft und möglicherweise auch den DFB-Pokal zu holen, sondern weil Salihamidzic und Co. nicht daran geglaubt haben, dass Nagelsmann im Duell mit Pep Guardiola bestehen kann. Tuchel triumphierte schon einmal über den Katalanen, als Chelsea im Champions-League-Final gegen Manchester City gewann. Und das ist das eigentliche Ziel der Bayern.
Die Meisterschaft und im Grundsatz auch der Cupsieg sind Pflicht. Zufrieden ist der Klub aber nur, wenn er zusätzlich auch auf dem Thron Europas sitzt. Und dafür hat der FC Bayern nun die besten Voraussetzungen geschaffen.
Dann ist Tuchel ja genau der richtige für den Job. :-D