Was soll auch all die Panikmache? Die Schweizer Eishockey-Nationalmannschaft hat doch vergangenen Mai erst gerade die Silbermedaille gewonnen. Und auch für dieses Jahr stehen die Zeichen gut für eine erfolgreiche Schweizer WM. Das Team besteht aus vielen Spielern der besten Mannschaft Europas (ZSC Lions), dazu darf noch mit einiger NHL-Verstärkung gerechnet werden (Meier, Siegenthaler, Moser und wohl auch Fiala und Hischier).
Wenn die Schweiz also bei den Erwachsenen regelmässig um Medaillen mitspielen kann, gibt es dann wirklich strukturelle Probleme? Ja, die gibt es. Und das sehen nicht nur Journalisten so. Auch Nati-Stürmer Nino Niederreiter warnte direkt nach dem Gewinn der Silbermedaille im vergangenen Mai: «Die richtig Jungen, die pushen, die fehlen uns. Hier muss der Schweizer Eishockeyverband aufpassen, dass er den Anschluss nach oben nicht verliert.» Das hat man nun erstmals auch auf dem Eis zu spüren bekommen: Die U18-Nationalmannschaft der Männer ist bei der Weltmeisterschaft in Texas aufgrund einer Niederlage gegen Norwegen aus der Top-Division abgestiegen.
Im letzten Jahr hatte die Schweiz einen verhältnismässig erfolgreichen Draft. Gleich vier Schweizer Spieler wurden von NHL-Teams im Draft auserwählt: Leon Muggli (2. Runde, Washington), Christian Kirsch (4. Runde, San Jose), Rico Gredig (6. Runde, NY Rangers), Basile Sansonnens (7. Runde, Vancouver). Realistische Chancen, einst tatsächlich in der NHL zu spielen, hat wohl höchstens Muggli.
Wenn man sich nur die Erstrundenpicks anschaut, ist die Schweiz schon länger eher dürftig unterwegs. Lian Bichsel wurde 2022 in der ersten Runde gedraftet, ist in der Nati aber derzeit noch verbannt. Zwischen Bichsel und dem Nummer-1-Draft von Nico Hischier gab es eine vierjährige Durststrecke, während in den Jahren davor fast jedes Mal ein Schweizer in der ersten Runde gedraftet worden war. Setzt man die Anzahl NHL-Drafts in Relation zur Anzahl lizenzierter Eishockeyspieler, dann hinkt die Schweiz auch der Slowakei, Deutschland oder Österreich hinterher.
Natürlich sind Draft-Picks nicht alles. Pius Suter wurde beispielsweise nie gedraftet und hat trotzdem den Weg in die NHL gefunden. Doch die Chancen stehen deutlich besser, wenn man sich schon früh in die Notizbücher der Scouts spielt. Zudem profitieren von Supertalenten auch die Nachwuchs-Nationalteams. Auf diesem Niveau hat ein einzelner überragender Spieler noch viel grösseren Einfluss und kann einen Abstieg beinahe im Alleingang verhindern.
Der Abstieg der U18-Nationalmannschaft ist der Tiefpunkt einer schon länger andauernden Misere bei den Junioren-Nationalteams. Die fehlenden Supertalente haben sich dort bemerkbar gemacht. Die U20-Nati hat sich zuletzt für die Halbfinals qualifiziert. Ansonsten war im Halbfinal jeweils Endstation und wohl auch dank des aktuellen Ausschlusses Russlands war der Abstieg in den letzten Jahren nicht wirklich Thema.
Anders bei der U18-Nati. Ihr letzter Halbfinal liegt schon zehn Jahre zurück, damals angetrieben von Nico Hischier, Denis Malgin, Calvin Thürkauf oder Jonas Siegenthaler. Seither waren sie dem Abstieg (3 Mal musste die Nati in die Relegation) deutlich näher als einer möglichen Medaille. Heuer eben der Abstieg, der sich mit zwei Niederlagen mit je zehn Gegentoren (gegen die USA und Schweden) fast schon ankündigte. Kanterniederlagen gegen die «grossen» Nationen sind mittlerweile auf dieser Stufe fast schon Normalität geworden.
Dass ein Abstieg im Nachwuchs kein Weltuntergang sein muss, hat die Slowakei gezeigt. Deren U18-Nati stieg 2019 ebenfalls ab. Doch beim slowakischen Verband scheint man sofort reagiert zu haben. Nach zwei Jahren Corona-Unterbruch gelang der sofortige Wiederaufstieg. Seither haben sie den Viertelfinal jedes Jahr überstanden – auch heuer wieder.
Das zeigt, dass die Slowaken auf die Baisse reagiert haben und schon entsprechend Früchte ernten dürfen. In der Schweiz drohen die ganz grossen Probleme noch zu kommen: Wenn die aktuelle NHL-Generation rund um Nico Hischier, Timo Meier und Kevin Fiala älter wird oder nicht an die WM kommt, dann wird es für die Schweiz plötzlich schwierig, mitzuhalten. Andere, jüngere NHL-Stars, die die Schweiz künftig verstärken könnten, sind wenige in Sicht.
Eishockey ist ein teurer und komplizierter Sport, den sich auch in der Schweiz längst nicht alle leisten können. Eine Ausrüstung für Kinder, noch ohne Schlittschuhe und Schläger, kann bis zu 300 Franken kosten. Da ist es einfacher, das Kind zum Fussball, Unihockey oder zur Leichtathletik zu schicken. So hat die Schweiz im Vergleich zu anderen Eishockey-Nationen viel weniger lizenzierte Spieler. Finnland mit mehr als 5 Millionen Einwohnern hat 75'000 lizenzierte Hockey-Spieler, in der Schweiz sind es trotz anderthalbmal so grosser Bevölkerung nur 24'000 Lizenzierte. Auch Eisflächen sind natürlich nur begrenzt vorhanden respektive während der Schulzeiten oft leer und ausserhalb derer maximal ausgelastet.
Die Zahl der Lizenzierten blieb in den letzten Jahren zwar einigermassen stabil. Doch zwischen 11 und 22 Jahren hören gemäss der NZZ rund zwei Drittel der jungen Schweizer mit dem Eishockey auf. Es fehlt an Unterstützung und Möglichkeiten, auf dem jeweiligen Niveau zu trainieren und zu spielen. Das sorgt am Ende für eine fehlende Breite – in diversen Bereichen. Vielleicht hat der nächste Nico Hischier mit elf Jahren frustriert seine Karriere bereits beendet. All diese Abgänger sind aber vor allem auch künftige Juniorentrainer oder andere Funktionäre, die den Schweizer Nachwuchs hätten voranbringen können.
Experten wie NHL-Scout Thomas Roost oder Spieleragent Sven Helfenstein schlagen schon länger Alarm über den Zustand des Schweizer Junioren-Hockeys. «Das Problem ist, was hierzulande auf den Stufen U9 bis U13 gemacht wird. Das ist der ultimative Horror», sagte Helfenstein im vergangenen Herbst.
Dabei geht es dem Agenten und TV-Experten insbesondere um die Qualität der Trainer. Es gebe auf diesen tieferen Juniorenstufen zu viele Trainer, die ehrenamtlich arbeiten und nicht das Fachwissen hätten, um diese jungen Spieler weiterzubringen. Auch Roost fordert schon länger, dass die besten Trainer nicht bei den erwachsenen Profis, sondern im Nachwuchs zum Einsatz kommen sollten.
Die mangelnde Qualität auf den tieferen Stufen zieht einen Rattenschwanz nach sich. Das Niveau der Schweizer Juniorenligen ist im Vergleich mit anderen Ländern auch in höheren Altersstufen tiefer. Die besten Spieler werden nicht gefordert und wandern ins Ausland ab, sodass das Niveau noch weiter sinkt.
Seit sich die National-League-Klubs vom Verband losgelöst haben, herrscht eine Kluft zwischen der Liga und dem nationalen Verband. Es hat sich gezeigt: Die Vereine schauen in erster Linie auf sich selbst. Es geht um den sportlichen Erfolg und darum, möglichst den letzten Tropfen Saft aus der Zitrone zu pressen.
Die Aufstockung der National League auf 14 Teams ist ein Beispiel dafür. Mittlerweile sind sich gemäss ZSC-Sportchef Sven Leuenberger alle NL-Teams einig, dass diese Vergrösserung der Liga ein Fehler war. Im Oberhaus sorgt sie für einen unbeliebten Modus, in der Swiss League durch die «Ausblutung» für ein tiefes sportliches Niveau und finanzielle Probleme. Der SC Langenthal ist bereits freiwillig abgestiegen und auch bei anderen Klubs geht die Konkursangst um. So fehlt es dem Schweizer Eishockey an Plätzen, wo sich junge Spieler bereits früh auf Erwachsenen-Niveau messen könnten. Doch trotz dieser offensichtlichen Probleme unternimmt kein Klub etwas – man könnte ja selbst vom Abstieg betroffen sein.
Ein anderes Beispiel sind die Ausgaben der Klubs. Wie gesagt, es geht nur um den sportlichen Erfolg der Elitemannschaft. Fast alles Geld im Schweizer Eishockey fliesst direkt in die Löhne der Spieler, statt im Nachwuchs für bessere Verhältnisse oder professionellere Trainer zu sorgen. Dabei bewiesen gerade die ZSC Lions, dass es auch anders geht. Die Zürcher zahlen nicht nur fürstliche Löhne, sondern unterhalten die grösste und beste Nachwuchsorganisation der Schweiz (die U15-Elit, die U17-Elit, die U20-Elit und die U20-Top wurden diese Saison allesamt Meister). Davon profitierten sie auch in den Playoffs, wo neben den Stars Eigengewächse wie Willy Riedi, Nicolas Baechler, Justin Sigrist oder Christian Marti zentrale Rollen spielten.
Doch natürlich ist auch der Verband nicht unschuldig an der aktuellen Situation. Bei der SIHF gefiel man sich in der Opferrolle, verwies stets auf die Abspaltung der National League und die Erhöhung des Ausländerkontingents als Problemherde für die Zukunft.
Selbst versank der Verband in Unruhen in der eigenen Führung. Nach den Äras von Marc Furrer und Michael Rindlisbacher sollte mit dem neuen Verbandspräsidenten Stefan Schärer endlich Ruhe einkehren. Der frühere Handballer sollte die Wogen zwischen Verband und Liga glätten. Doch stattdessen geriet er wegen seines Führungsstils immer mehr in Kritik, bis er im vergangenen Dezember nach nur 15 Monaten von seinem Amt zurücktrat.
Wie gesagt: Eishockey ist teuer und aufwändig. Längst nicht alle Schweizer Familien können es sich leisten, ihre Kinder ins Hockey zu schicken. Dort sollten Verband und Klubs noch stärker aktiv werden. Neben Schnuppertagen, um überhaupt mit dem Sport in Kontakt zu kommen, sollten die Kinder und Familien besser unterstützt werden – sowohl finanziell als auch organisatorisch.
Und ebenfalls bereits erwähnt: Es gibt nicht unbegrenzt Eisflächen in der Schweiz. Damit die Auslastung besser optimiert werden kann und die Eisfelder am Nachmittag nicht ungenutzt leer stehen, bräuchte es etwas mehr Flexibilität respektive Zusammenarbeit mit dem Schul- und Ausbildungssystem. Wenn die Junioren mehrmals wöchentlich bis spät am Abend trainieren müssen, leiden Lebensqualität und Regeneration. Eine bessere Vereinbarkeit von Schule/Ausbildung und Sport könnte für starke Verbesserungen sorgen.
Wenn sich mehrere Experten und Scouts einig sind, dann muss etwas dran sein: Das Trainer-Niveau in den tieferen Juniorenstufen ist oft ungenügend. Die Klubs und Verbände sollten dafür sorgen, dass professionellere Trainer und Trainingsmethoden bereits früher zum Einsatz kommen, damit nicht schon früh ein Skill-Rückstand gegenüber der ausländischen Konkurrenz besteht.
In anderen Eishockey-Ländern oder auch anderen Sportarten in der Schweiz sind sie bereits Realität: nationale Leistungszentren. Swiss Ski, Swiss Tennis oder Swiss Athletics fördern in diesen bereits die besten Nachwuchshoffnungen in den jeweiligen Sportarten schon früh gezielt. Die USA haben seit der Eröffnung des «USA Hockey National Team Development Program» regelmässig mehr Top-Draftpicks als Kanada.
Wie ein solches Leistungszentrum im Schweizer Eishockey aussehen könnte, müsste sich noch weisen. Schliesslich werden die Klubs ihre besten Talente nur ungern komplett abgeben. Aber eine Zusammenarbeit, wo ein grosser Teil der Ausbildung immer noch in den Klubs stattfindet, die vielversprechendsten Rohdiamanten aber zusätzlich noch in einem extrem professionellen Umfeld beim Verband geschliffen werden, müsste eigentlich möglich sein.
Die Schweiz kann an vielen Orten auf extrem moderne Eishockey- und Sport-Infrastruktur zählen. Da gibt es neben dem nationalen Sportzentrum in Magglingen auch noch das OYM in Cham, wo mehrheitlich (aber nicht nur) der EV Zug trainiert.
Auch die ZSC Lions, der HC Davos und seit dieser Saison auch Langnau können seit dem Neu- respektive Umbau ihrer jeweiligen Stadien auf topmoderne Trainingszentren zählen. Jetzt muss diese Infrastruktur nur noch bestmöglich genutzt werden.
Es ist nicht so, dass der Schweizer Verband in den letzten Jahren ganz untätig war. 2022/23 führte die SIHF eine umfassende Strukturanalyse im Eishockeynachwuchs durch. Dabei sollen positive Trends, aber auch Systemschwächen gefunden worden sein. Einerseits wurde festgestellt, dass im Schweizer Hockey teilweise zu früh oder schlicht zum falschen Zeitpunkt selektioniert werde. Andererseits, dass es mehr spätere Einstiegsmöglichkeiten ins professionelle und semi-professionelle Eishockey brauche.
Um darauf zu reagieren, wurden flexiblere Stufenübergänge zwischen den Alters- und Leistungskategorien geschaffen, die bereits positive Tendenzen zeigen sollen. Es gibt neue Lehrmittel in der Trainerausbildung, Rekrutierungs- und Image-Kampagnen sowie eine bessere Unterstützung durch regionale Instruktoren. Der grosse Wurf soll dann ab nächster Saison folgen: eine neue Nachwuchsstruktur mit U18 und U21 statt wie bisher U20 und U17-Kategorien sowie breitere Talentförderung auf U14- und U16-Stufe.
Es ist nicht so, dass die Schweiz in den letzten Jahren gänzlich ohne grosse Hockey-Talente auskommen musste. Beim 2006er-Jahrgang gibt es mit Leon Muggli, Daniil Ustinkov oder Jamiro Reber Spieler mit vielversprechender Zukunft, um später auch in der A-Nati eine wichtige Rolle zu spielen. Der 2007er-Jahrgang, der jetzt gerade mit der U18 abgestiegen ist, galt schon im Voraus als vergleichsweise schwächer. Für die Jahrgänge 2008 und 2009 soll es gemäss Scout Thomas Roost wieder etwas besser aussehen.
Nico Hischier, Timo Meier, Kevin Fiala, Denis Malgin, Pius Suter und Co. werden alle noch einige Jahre auf allerhöchstem Niveau spielen können. Die A-Nati von Patrick Fischer muss sich also nicht gerade darum sorgen, wie die U18 plötzlich mit dem Abstieg konfrontiert wird. So bleibt dem Schweizer Eishockey noch etwas Zeit, um die Nachfolger auf die aktuellen NHL- und National-League-Stars zu finden.
So gesehen ist der Abstieg der U18 hoffentlich ein Warnschuss im letzten Moment. Nationalmannschaftsdirektor Lars Weibel liess sich im Nachhinein folgendermassen zitieren: «Die Ursachen sind komplex, und es braucht jetzt Lösungen auf mehreren Ebenen. Es ist aber nicht nur eine Frage dieser Mannschaft – das ganze Schweizer Eishockey ist gefordert.» Doch jetzt müssen auf die Worte auch Taten folgen – ansonsten droht die Schweiz, wie von Nino Niederreiter befürchtet, endgültig den Anschluss an die internationale Konkurrenz zu verlieren.
Die besten der Jahrgänge müssen gezielt gefördert werden.Die U-18 und U-20 Nationalmannschaften müssen in die Meisterschaft des Erwachsenen Hockeys integriert werden.Seit dies in der Slovakei passiert ist,stellte sich der Erfolg ein.
Natürlich verlieren dadurch die Clubteams ihre Spitzen-Junioren.Aber spätestens mit 20 Jahren können sie top ausgebildet wieder zu ihrem Stammclub zurückkehren.