Wenn ein Chronist etwas wissen will, dann ruft er bei einem normalen Hockeyunternehmen den Sportchef an. Entweder wird er dann angelogen oder nicht angelogen. Aber er bekommt eine Antwort.
Bei Servette geht das nicht mehr. Seit die Stiftung, die das Erbe des Rolex-Gründers verwaltet («Fondation Hans Wilsdorf») auf den Plan getreten ist, hat in Genf eine neue Zeitrechnung begonnen. Diese Stiftung alimentiert die «Fondation 1890» (so benannt nach dem Gründungsjahr von Fussball-Servette). Die hat bereits Fussball-Servette gerettet und sorgt inzwischen auch bei Hockey-Servette für geordnete wirtschaftliche Verhältnisse.
Nun muss noch die Sportabteilung neu geordnet werden. Ein Anruf beim Sportchef bringt allerdings keine Klarheit. Sportchef Chris McSorley darf nicht reden. Und da er seinen Rentenvertrag bis 2024 nicht gefährden mag und um die «Anwalts-Dichte» in Genf weiss, akzeptiert er diesen Maulkorb ohne Knurren.
Seit er im letzten Frühjahr als Coach und Manager abgesetzt worden ist, hat er bei Servette erstmals seit 2001 nicht mehr das letzten Wort. Er ist nur noch ein Operetten-Sportchef ohne Entscheidungsbefugnis.
Informationen aus dem Reich Servette sind daher ähnlich schwierig zu beschaffen wie aus Nordkorea. So wie niemand ausserhalb des Landes dazu in der Lage ist, Marschall Kim zu fragen (und zu zitieren), so kann niemand in direkter Rede wiedergeben, was Chris McSorley über Servette (und über seine Situation) zu sagen hat.
Aber es gibt natürlich verlässliche Gewährsleute, die direkten Zugang zum Hofe des Kanadiers haben und sehr wohl wissen, wohin die Reise gehen wird und unter Wahrung der Anonymität noch so gerne Auskunft geben. Diese «Geheimdienst-Informationen» aus gut unterrichteten Kreisen sagen Folgendes: Chris McSorley habe nach wie vor kein Gespräch mit den neuen Besitzern gehabt. Was ein Grund zur grosser Sorge sein müsste.
Aber Chris McSorley sage, er sei optimistisch und gehe davon aus, dass er bald von seinem Posten als «Frühstücks-Direktor» erlöst werde und zurück an die wahre Arbeit gehen könne. Er wolle wieder alle Macht als Sportchef und Coach. Weil es in der Schweiz nicht möglich sei, eine Mannschaft zu führen, wenn man nicht alle Macht habe. Mit anderen Worten: Es soll wieder so werden, wie es einmal war. Wie es von 2001 bis 2017 war. Die Tage von Cheftrainer Craig Woodcroft seien gezählt.
Trotz eines noch zwei Jahre laufenden Vertrages. Die Dinge in der Kabine seien aus dem Ruder gelaufen und nicht mehr in Ordnung zu bringen. Sein tüchtiger Assistent Jason O’Leary, letzte Saison mit Langenthal NLB-Meister, sei auf dem Weg nach Wien und dort erster Kandidat, um Cheftrainer Serge Aubin (nächste Saison bei den ZSC Lions) zu ersetzen.
Also wird bald alles wieder so sein, wie es bis vor einem Jahr war, seit Chris McSorley 2002 Servette aus der 27-jährigen Verbannung in die Zweit- und Drittklassigkeit erlöst hat? Kommt es zur glanzvollen Wiederkehr des Mannes, den die lokalen Medien als «Jesus Chris» verehren? Kehrt die alte Herrlichkeit wieder?
So sicher ist das nicht mehr. Denn Chris McSorley ist nicht nur der Architekt des modernen Servette. Eine Art Marc Lüthi des Welschlandes, aber mit Sportkompetenz. Er ist auch ein charismatischer Macher, der keine Grenzen kennt und so sein Unternehmen in eine wirtschaftliche Sackgasse dirigiert hat. Er hat Servette so gross gemacht, dass es nicht mehr in die veralteten Strukturen und in die Genfer Denkschemen passt. Und sein Machtwille ist so ausgeprägt, dass die neuen starken Männer um Didier Fischer auf den Gedanken kommen könnten, dass ein Neustart mit etwas weniger charismatischen Persönlichkeiten einfacher sein und zu einer Beruhigung führen könnte.
Was im Hinblick auf die mühselige Realisierung des neuen Stadions durchaus hilfreich wäre. Wir wollen nicht gleich mit dem österreichischen Schriftsteller Karl Kraus von den letzten Tagen der Menschheit reden, einem Drama in fünf Akten. Aber es kann sehr wohl sein, dass wir gerade die letzten Tage des alten Servette erleben. Und wir sollten wenigstens probehalber schon mal das Undenkbare denken: Ein Servette ohne Chris McSorley.