Finnland hat Kanada in der Vorrunde gleich mit 5:1 vom Eis gefegt. Also haben wir, da wir ja besser sind als die Finnen, erst recht eine Chance gegen Kanada. Solche «Resultat-Milchbüchleinrechnungen» gehen natürlich nie auf. Sonst wären ja beispielsweise die SCL Tigers Serienmeister.
Was richtig ist: es gibt hockeyfachlich keinen Grund, warum wir die Kanadier im Halbfinale nicht besiegen können.
Natürlich ist Connor McDavid der wahrscheinlich dynamischste, schnellste Stürmer der Welt. Aber wir haben hinten mit Roman Josi auch einen der besten Verteidiger der Welt.
Natürlich haben die Kanadier nur Feldspieler aus der NHL und mithin mehr NHL-Power. Aber auf dem grossen europäischen Eisfeld sind die Besten unserer heimischen Liga bei einer WM so gut brauchbar wie ein durchschnittlicher NHL-Profi.
Natürlich sind die Kanadier kräftiger und robuster. Aber mit der Präsenz von so vielen NHL-Spielern in der Kabine und auf dem Eis wie nie zuvor, kennen auch die Schweizer keine Furcht.
Das Problem ist nicht spielerischer und taktischer Natur. Das Problem ist die Mentalität. Verrückte, schmähliche Niederlagen gehören zur finnischen Hockeykultur. Auch bei WM-Turnieren. Wie 2003, als die Finnen im Viertelfinale der Heim-WM gegen Schweden 5:1 führten und 5:6 verloren. Vielleicht gehören gelegentliche Schmach-Niederlagen auch ein wenig zur finnischen Mentalität. Schliesslich erzählt kein Filmregisseur kultigere Verlierergeschichten als Finnlands preigekrönter Aki Kaurismäki. Er ist auf eine gewisse Weise der Gotthelf der Finnen.
Der Gotthelf der Kanadier aber ist der im Jahre 2000 verstorbene Poet Al Purdy. Wenn wir Aki Kaurismäkis Filme sehen, verstehen wir, warum die Finnen gegen die Schweizer verlieren konnten. Wenn wir Al Purdy Gedichte lesen, ahnen wir, dass es im Halbfinale für die Schweiz schwierig wird. Seine Bücher lassen uns auf besondere Weise die Siegermentalität der Kanadier erahnen. Der Zyniker Charles Bukowski, ein Freund Al Purdys, sagte einmal: «I don't know of any good living poets. But there's this tough son of a bitch up in Canada that walks the line.» Von Al Purdy, diesem «harten Hurensohn da oben in Kanada» stammt die so treffende, martialische Formulierung: «Eishockey ist eine Mischung aus Mord und Ballett.»
Eishockey ist als nationaler Wintersport in der kanadischen Verfassung festgeschrieben. Eine ernste Sache also. Natürlich verlieren auch die Kanadier ab und an wichtige Spiele. Das gehört zur Natur eines unberechenbaren Spiels auf rutschiger Unterlage. Aber sie haben erst einmal verloren, weil sie den Gegner unterschätzt haben: gegen die Sowjets im ersten Spiel der «Super-Serie» von 1972. Im «heiligen» Forum zu Montréal ging die erste Partie einer kanadischen NHL-Auswahl gegen die Sowjets 3:7 verloren. Aber die Kanadier korrigierten die Schmach, gewannen die Serie im 8. und letzten Spiel in Moskau durch das Tor von Paul Henderson. Was als Schmach begonnen hatte, endete als Mythos, der für Kanadas Nationalbewusstsein eine ähnliche Bedeutung hat wie der Fussball-WM-Titel von 1954 für Deutschland.
Um es in einem Satz zu sagen: Die Kanadier werden uns, anders als die Finnen, ganz sicher nicht unterschätzen. Das ist das grösste Problem. Die kanadischen Coaches bereiten sich akribischer als ihre Berufskollegen auf jedes Spiel vor, unabhängig davon, wer der Gegner ist. Und die Spieler kümmert es nicht, wer der Gegner ist. Sie setzen einfach, wenn es wirklich zählt, im Namen des Vaterlandes alles daran, den Job zu machen. Deshalb passiert es ihnen nicht, in einem Spiel, das zählt, den Gegner zu unterschätzen. Deshalb sind sie 26 Mal Weltmeister und 9 Mal Olympiasieger geworden.
Ach, wenn die Kanadier nur nicht Kanadier wären, wäre es so einfach und wir hätten so gute Finalchancen.
Die Kanadier werden auch nicht den Fehler der Finnen machen, nach einer Führung zu passiv und zu defensiv zu spielen. Ganz im Gegenteil: sie haben eine hochkarätige «Spengler Cup-Mannschaft». In der DNA dieses Teams ist alleine schon von der Besetzung und der Mentalität her der Vorwärtsdrang eingebrannt.
Die Frage wird also sein: gelingt es, die enorme offensive kanadische Feuerkraft zu neutralisieren? Möglich ist es, aber schwierig.
Die Chancen stehen hingegen gut, dass wir gegen die Kanadier vier Tore erzielen. Die Torhüter sind durchschnittlich, die defensive Organisation ist durchlässig. Aber eben: wir dürfen dann nicht mehr als vier Tore zulassen.
Vom Sieg gegen Finnland war ich überzeugt. Vom Triumph gegen Kanada bin ich es nicht. Sicher ist nur, dass es ein spektakuläres Spiel wird. Womöglich vom Unterhaltungswert her ein «Jahrhundert-Spiel». Weil wir vielleicht auf Jahre hinaus nie mehr mit einem so guten WM-Team die Kanadier in einem so wichtigen Spiel auf Augenhöhe herausfordern können.