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Am Mittwoch hat es geregnet. Martina Hingis und Timea Bacsinszky konnten nicht spielen. Ich hatte Zeit, meine Gedanken ein wenig vom Sport zu lösen.
Woran erkennen wir eigentlich, dass wir nicht zu Hause, sondern in Afrika, in Südamerika oder den USA sind? Ich habe dafür eine simple, politisch unkorrekte Erklärung, für die ich mich sogleich entschuldige. Ich erkenne es an den Pfützen, die sich bei Regenwetter sofort überall, auf den Strassen, Plätzen oder vor dem Hotel bilden. In der Schweiz gibt es bei Regenwetter praktisch keine Pfützen. Weil beim Bau von Strassen und Plätzen, beim Bauen mit Steuergeldern, darauf geachtet wird, dass das Regenwasser ablaufen kann.
Beim Bau der olympischen Anlagen, beim Herrichten des «Parque Olimpico» in Rio hat kein Handwerker darauf geachtet, dass das Regenwasser abläuft. Nach unseren Standards (zugegeben: es sind die höchsten der Welt) gibt es hier viel handwerklichen Pfusch. Und mit einem Mal habe ich mein olympisches Pfingsterlebnis. Heureka! Mir wird auf einmal klar: Rio 2016 ist ja die erste echte Olympiade seit Athen 2004!
Wir verstehen den Begriff «Olympiade» in der Regel falsch. Wenn ich nach Hause komme, kann ich in der Beiz erzählen, ich sei an der Olympiade in Rio gewesen. In Tat und Wahrheit steht eine Olympiade jedoch nicht für olympische Spiele. Das Wort bezeichnet vielmehr den vierjährigen Zeitraum zwischen zwei Olympischen Spielen. Die Olympiade, in der wir jetzt leben, hat also mit der Eröffnung dieser Spiele vor ein paar Tagen erst begonnen und endet, wenn die nächsten in vier Jahren in Tokio beginnen.
Warum mahnt mich Rio 2016 an Athen 2004? Weil Athen und Rio, anders als Peking 2008 und London 2012, für olympisches Bauen stehen. Alles, was für die Spiele errichtet worden ist, hat höchstens für vier Jahre Bestand. Oder mit ziemlicher Sicherheit noch weniger lang. Eine Bau-Olympiade.
Olympisches Bauen dürfte lukrativ sein. Es ist Pfusch im grossen Stil. Finanziert zu einem schönen Teil vom Steuerzahler.
Nein, das ist keine billige Polemik. Im August 2005 bin ich ein Jahr nach der Eröffnung der Spiele wieder nach Athen gereist. Es war ein ganz besonderes Erlebnis. Nie zuvor in Friedenszeiten dürften von Menschenhand erbaute Anlagen so schnell verfallen und verkommen sein wie nach den Spielen in Athen. Ich bin zwar weder Architekt noch ein Fachmann für Bauen und Handwerksarbeiten. Aber die polemische Behauptung wage ich: In Rio wird es noch schneller gehen.
Im August 2005 war in Athen keine einzige der 22 extra für die Spiele von 2004 erbauten olympischen Sportstätten noch zugänglich. Alles verriegelt und vergittert. Oder die Eingänge durch rostige Zäune, quergestellte Stühle und Baustellenabschrankungen versperrt. Hier hat es nie mehr Wettkämpfe gegeben. Der Platz beim olympischen Park, beim Schwimmstadion, auf dem sich ein Jahr zuvor unzählige Menschen eingefunden hatten um die olympische Party zu feiern, war wüst und abgesehen von ein paar streunenden, abgemagerten Hunden leer.
Und was war aus dem olympischen Dorf geworden, wo über 10'000 Athleten und Funktionäre behaust und verköstigt worden sind? Ein Jahr zuvor hatte man uns erzählt, aus dem olympischen Dorf werde man Sozialwohnungen machen. Etwas fürs Volk. Olympische Nachhaltigkeit. Verantwortungsvoller Umgang mit öffentlichen Geldern. Anfang 2005 werde alles bewohnt sein.
Nun stand ich wieder am Eingang zu diesem Dorf. Kaum Leben regte sich. Es war eine post-olympische Baustelle. Die Polizei bewachte die Eingänge. Einlass bekam nur, wer mit einem Bauauftrag unterwegs war. Wer raus kam, musste aus dem Auto steigen und die Kofferräume öffnen.
Ich erkundigte mich bei einem der herumstehenden Beamten nach den Sozialwohnungen. «Sozialwohnungen? Sie machen wohl Witze! Nein, sicher nicht.» Das sei bloss eine der kruden Ideen der abgewählten Sozialisten gewesen. Man baue das olympische Dorf jetzt zu einer richtigen Wohnsiedlungen mit Schulen und Shops für die reichen Leute um. Aber das brauche seine Zeit, bis alles ordentlich hergerichtet sei.
Die Wohnlage sei vorzüglich, prima durch den öffentlichen Verkehr erschlossen. Die Autobahn und der Flughafen auch nicht weit. Die Nachfrage sei so gross, dass man unter den Miet- und Kaufinteressenten eine Lotterie veranstalten müsse. Da könne man doch hier nicht Sozialwohnungen machen! Aber warum die Bewachung? Na ja, damit sich nicht Unbefugte reinschleichen und Dinge abmontieren.
Das alles kommt mir jetzt wieder in den Sinn, während ich, durchs Regenwetter zur Untätigkeit verurteilt, Zeit zum Philosophieren habe und im «Parco Olympico» die olympischen Bauten hier und dort ein wenig genauer betrachte. Wenn ich den Erzählungen der Kollegen lausche, die in den für diese Spiele hochgezogenen Appartements hausen und erzählen, wie Türklinken abfallen, Toiletten schon nicht mehr funktionieren, die Böden knarren und Wasser eindringt, wenn es regnet. Wenn ich die riesigen Pfützen um mich herum sehe.
Ich war ein Jahr nach den Spielen auch in Peking. Zumindest der olympische Park war eine touristische Attraktion und ist es heute noch. Das autoritäre Regime hat wenigstens diese Anlage nicht bloss für eine Olympiade, für vier Jahre gebaut. Dort gibt es weiterhin sportliche Wettkämpfe und 2022 werden in Peking ja die Winterspiele (!) zelebriert. Und so auffällige olympische Ruinen wie in Athen habe ich nach London 2012 nicht gesehen.
Erinnerungen an Athen 2004 aber sind Erinnerungen an die Zukunft von Rio 2016. Der Bürgermeister von Rio hat ja schon mal erklärt, nach den Spielen sei seine Stadt Pleite. Dem kurzen olympischen Wahn wird hier eine lange Reue folgen.
Kümmert uns das eigentlich? Sollten wir nicht «Skandal! Skandal! Skandal!» in die Welt hinausschreiben? Zeichnet sich der verantwortungsvolle Chronist gerade dadurch aus, dass er über den olympischen Spielfeldrand hinausblickt, soziale, politische und wirtschaftliche Zusammenhänge erkennt, auf Missstände hinweist und hilft, die Welt zu verbessern? Müsste ich jetzt, nach dieser Erkenntnis, nicht recherchieren, bei Behörden vorsprechen, aufdecken, aufrütteln?
Ach was. Ich bin bei meinen 14. Olympischen Spielen wahrscheinlich ein bisschen zynisch geworden und sage: Hauptsache, Fabian Cancellara hat Gold geholt. Und bald scheint wieder die Sonne. Hopp Schwiiz!