Marcelo Bielsa ist für seine eigenwilligen Methoden bekannt. Der 63-jährige Argentinier wird deshalb oft nur «El Loco» («Der Verrückte») genannt. Der Kult-Trainer lässt extrem hart trainieren, setzt grosse Stücke auf Ordnung und Disziplin und gilt als Taktik-Guru und Vordenker des modernen Fussballs. Im Sommer liess der Coach des englischen Zweitligisten Leeds United seine Spieler vor dem Stadion drei Stunden lang Müll aufsammeln, um ihnen vor Augen zu führen, wie hart die Fans arbeiten, die Spiel für Spiel ins Stadion kommen.
Als Leeds-Besitzer Andrea Radrizzani im Juni erstmals Kontakt zu Bielsa aufnehmen wollte, war dieser zunächst nicht zu erreichen. Am nächsten Morgen rief der Argentinier zurück – in der Nacht hatte er sich bereits sieben Spiele der «Whites» angeschaut. Bei seiner Vorstellung in Leeds wenige Wochen später gab er an, dass er alle 51 Partien aus der Vorsaison analysiert habe.
Bielsa überlässt nichts dem Zufall. Doch vor dem Championship-Topspiel gegen Derby County am letzen Freitagabend übertrieb es der Leeds-Trainer etwas mit seiner Akribie, als er einen Mitarbeiter seines Klubs als «Spion» zum Abschlusstraining der «Rams» schickte. In den Regularien der FA steht zwar nirgends geschrieben, dass dies verboten ist. Dennoch sorgte der Fall für viel Aufregung.
Denn Bielsas «Spion», der mit einem Feldstecher ausgerüstet war und sich ziemlich auffällig verhalten haben soll, wurde erwischt und vom Trainingsgelände verwiesen. Die FA kündigte eine Untersuchung an und Derby-Trainer Frank Lampard – eigentlich ein grosser Bewunderer Bielsas – klagte öffentlich an:
Leeds-Besitzer Radrizzani sah sich sogar gezwungen, Derby Countys Präsident Mel Morris öffentlich um Entschuldigung zu bitten und Bielsa an die Klub-Statuten zu erinnern. Bielsa nahm die Schuld sofort auf sich. «Ich habe Leeds United nicht um Erlaubnis gebeten, einen Mitarbeiter nach Derby zu schicken, also ist es allein meine Verantwortung», sagte er nach dem 2:0-Sieg seiner Mannschaft und erklärte:
WATCH: Marcelo Bielsa admits he was behind #LUFC spy-gate and that he has been using similar tactics for year.
— Sky Sports Football (@SkyFootball) 11. Januar 2019
📺 Watch live on Sky Sports Football: https://t.co/dLI22fdxp1 pic.twitter.com/MKktATOVnh
Für gestern berief Leeds United dann kurzerhand eine «Emergency Press Conference» mit Trainer Bielsa ein. Sofort wurde spekuliert, dass der Argentinier wohl seinen Rücktritt bekannt geben müsse, doch es kam alles ganz anders …
In einem 70-minütigen, ziemlich skurrilen Vortrag zeigte Bielsa völlig offen auf, wie er die Gegner seiner Mannschaft beobachtet und analysiert. «Ich kann Ihnen sagen, dass wir all unsere Gegner beobachten und uns ihre Trainingseinheiten angesehen haben, bevor wir gegen sie gespielt haben», begann Bielsa ruhig, bevor es aus ihm rausplatzte:
💬 | Marcelo Bielsa: "What I have done is not illegal. We can discuss it, it's not seen as a good thing, but it's not a violation of the law. I know that not everything that is legal is right to do."
— Leeds United (@LUFC) 16. Januar 2019
Insgesamt hätten seine Mitarbeiter alle 51 Spiele von Derby County der letzten Saison angeschaut. Jede Analyse brauche vier Stunden, die Auswertung des ganzen Materials also oft mehr als 200 Stunden. Seinen Spielern zeigt Bielsa schliesslich eine achtminütige Zusammenfassung.
💬 | Marcelo now walks the press through video analysis of an opponent’s offensive actions, explaining how it totals 40 minutes, which is then broken down into 8 minute clips for the players pic.twitter.com/juLwE0NEGo
— Leeds United (@LUFC) 16. Januar 2019
Vor dem Spiel gegen Derby zeigte er beispielsweise die gängigen Angriffsmuster des Gegners auf, wie oft die «Rams» in welchen Formationen aufliefen, welche Spieler sich wann in welche Zonen bewegen und was Derby-Regisseur Harry Wilson macht, wenn er vor einem Eckball beide Hände in die Höhe hebt. Ziemlich ärgerlich für Derby: Jetzt weiss jeder, wie die «Rams» spielen ...
Rhetorisch fragte Bielsa schliesslich in die Runde: «Warum wir das machen ? Weil wir glauben, dass es professionelles Verhalten ist. Wir tun alles, um bestmöglich vorbereitet zu sein. Wir fühlen uns schuldig, wenn wir nicht genug arbeiten, wenn uns Informationen über die Mannschaften fehlen, auf die wir treffen. Das nimmt uns auch die Angst und die Aufregung», erklärte «El Loco» und zeigte anhand einer Powerpoint-Präsentation eine gigantische Ansammlung von Daten zu jedem Spieler der zweiten englischen Liga: «Ich kann kein Englisch, aber ich kann über die 24 Mannschaften der Championship sprechen.»
💬 | Marcelo demonstrates the analysis his team goes through for each opponent, and how it totals more than 300 hours of work pic.twitter.com/asfGA6Wadm
— Leeds United (@LUFC) 16. Januar 2019
Bielsa verriet während seines langen Referats nicht ohne Stolz, dass er 2015 nach dem verlorenen Cupfinal mit Athletic Bilbao dem damaligen Barça-Trainer Pep Guardiola seine Analyse über die «Blaugrana» zeigte und dieser ihm darauf sagte: «Wow, du weisst mehr über Barcelona als ich.»
Am Ende seiner Präsentation erklärte Bielsa auch noch den Grund für seine langen Ausführungen. «Ich wollte Ihnen damit zeigen, dass wir nicht darauf angewiesen sind, die Trainingseinheiten unserer Gegner zu beobachten. Ich habe bereits alle notwendigen Informationen, bevor ich das tue.»
» Hier gibt's die Abschrift der kompletten Pressekonferenz von Bielsa (englisch).
Eines scheint sicher: Bielsas Analysen erfüllen ihren Zweck. Leeds United liegt nach fast zwei Dritteln der Saison an der Spitze der zweiten englischen Liga und träumt 15 Jahre nach dem Abstieg aus der Premier League von der Rückkehr ins Oberhaus