Seit Murat Yakin im vergangenen Sommer Nationaltrainer geworden ist, hat man ihn häufig sehr entspannt und locker erlebt. Manchmal etwas ernster, wenn gerade wieder eine wichtige WM-Qualifikationspartie anstand, gegen Italien zum Beispiel. Aber so richtig in Verlegenheit gebracht wurde er noch nie. Bis gestern.
Die Fragerunde der Medien ist zu Ende, als der 13-jährige Baptiste das Mikrofon erhält. «Wenn Sie wählen können, was nehmen Sie? Zwei Siege in dieser Woche gegen Spanien und Portugal. Oder den Einzug in den WM-Achtelfinal?» Baptiste ist eines von mehreren Kindern mit einer Krankheit oder Behinderung, die eingeladen sind, die Nati an diesem Morgen rund um das Training zu begleiten.
Yakin lächelt und lächelt, vielleicht kommt es ihm ein bisschen vor, als würde ihn seine Frau vor einem Gala-Besuch fragen: «Welches der zwei Kleider gefällt dir besser?» Beide schön, logisch! Eines noch ein bisschen mehr. Bloss, wie sagen, ohne dass es wirkt, als würde man das andere verschmähen?
«Sehr schön!», antwortet Yakin schliesslich, lächelt noch einmal, «beides natürlich!», sagt er, aber es wird rasch klar, wenn er wählen muss, steht die WM über allem in diesem Jahr, der Achtelfinal wäre ein toller Erfolg. Yakin gelingt es, bei aller Diplomatie sogar noch eine versteckte Botschaft zu platzieren: «Wenn ich mir eines wünschen darf, dann, dass an der Weltmeisterschaft alle bereit sind und ich sämtliche Spieler gesund zur Verfügung habe.» Heisst: Wenn nicht, könnte es schwierig werden mit dem Achtelfinal.
Doch zunächst stehen nun ebendiese beiden Nations-League-Heimspiele gegen Spanien und Portugal an. Spiele, die im Nachgang der letzten Woche plötzlich eine gewisse Bedeutung erhalten. Es war eine Woche, die Spuren hinterlassen hat, auch beim Nationaltrainer.
Ein 0:4 in Portugal, zuvor ein 1:2 in Tschechien. Zwei lamentable Auftritte, die einige unangenehme Fragen, ja gar Zweifel ausgelöst haben. Darum ist heute und am Sonntag in Genf vor erfreulich vielen Zuschauern (nur fürs Spanien-Spiel gibt es noch einige wenige Tickets) eine deutliche Reaktion nötig.
Erstmals, seit Yakin die Nati im letzten Sommer übernahm, muss er die Gruppe im Gegenwind moderieren. Wie hat er diese letzten Tage erlebt? «Gute Stimmung. Guter Spirit. Viel Harmonie.» In seiner Antwort dringt die Überzeugung durch, dass ein paar schlechtere Spiele nicht reichen, um die Euphorie aus dem letzten Herbst kaputtzumachen. «Das letzte Jahr und dieses Jahr kann man nicht vergleichen, die Spannung ist nicht dieselbe», fügt Yakin an.
Unangenehm ist die Situation für Yakin aber alleweil. Wie er die Schweiz an die WM führte, entstand der Eindruck, es gelinge ihm einfach alles. Egal, wie viele Spieler gerade verletzt ausfielen, Yakin hatte stets eine Lösung bereit. Und das nötige Glück stand ihm auch beiseite (Italien trauert noch heute wegen der verschossenen Penaltys in den Direktduellen).
Gerade aber sind die Glücksgefühle aus dem Herbst weit weg. Darum muss das Schweizer Team heute einen ganz anderen Eindruck hinterlassen. Ansonsten ist die Schwelle einer Mini-Krise plötzlich überschritten. Das gilt es mit Blick auf die nahende WM mit herausfordernden Aufgaben gegen Kamerun, Brasilien und Serbien unbedingt zu verhindern.
Ein Sieg heute Abend gegen Spanien also? Wäre gewiss schön. Auch weil es noch eine offene Rechnung nach dem verlorenen EM-Viertelfinal gibt. Aber für einmal geht es während dieser 90 Minuten mehr um den optischen Eindruck, um Haltung und Einsatz als nur um das nackte Resultat.
Denn eines darf man bei aller Euphorie, die 2021 zum Ende der EM und rund um die WM-Qualifikation herrschte, nicht vergessen: Die grossen Schweizer Gefühlsregungen lösten allesamt Unentschieden aus: Frankreich 3:3, Spanien 1:1, Italien 0:0 und nochmals Italien 1:1.
Tolle Spiele, ja, aber nach 90 oder 120 Minuten besiegten die Schweizer letztmals im November 2018 einen klingenden Namen (5:2 gegen Belgien). Zuvor gab es im September 2016 noch ein 2:0 gegen Portugal in der Qualifikation für die WM in Russland. Macht 2 Siege aus 28 Partien gegen grosse Fussballnationen seit Sommer 2014 und dem Beginn der Ära Vladimir Petkovic.
Einen grossen Sieg darf man darum auch jetzt nicht zwingend erwarten. Aber etwas Rückenwind vor der WM käme Yakin und der Nati schon gelegen. (aargauerzeitung.ch)