Ein Fussballspiel ohne Kopfbälle? Noch ist diese Vorstellung ungewohnt. Gerade bei Eckbällen und Freistössen würde sich das Spiel massgeblich ändern. Flanken würden nur noch flach zur Mitte geschlagen.
Und doch setzen sich führende Fussballfunktionäre mit dem Gedanken auseinander, dass der Sport in naher Zukunft ohne Kopfbälle auskommen könnte. In England, Schottland und Nordirland untersagten die Verbände Kindern bis elf Jahren bereits jegliche Kopfballübungen, auch im Jugendbereich sollen Kopfbälle nur noch selten trainiert werden. Im Spiel sind sie allerdings weiterhin erlaubt.
Für Erwachsene gilt seit Beginn dieser Saison: Im Training müssen Kopfbälle gezählt werden. Nur zehn «Kopfbälle mit höherer Kraft» dürfen gemacht werden, das sind Kopfbälle nach Abschlägen des Goalies, nach Freistössen, Eckbällen oder Flanken.
Tottenhams Trainer Nuno Espirito Santo gab freilich zu, die Vorschrift zu ignorieren. «Ich bin besorgt darüber, was Kopfbälle verursachen können. Ehrlich gesagt, ich will Sie nicht anlügen: Ich zähle nicht, wie oft unsere Spieler den Ball köpfen. Vielleicht bekomme ich dafür Ärger, aber Fussball ist Springen, Köpfen – das ist Teil des Spiels.» Kaum anzunehmen, dass der Portugiese der Einzige ist, der so denkt und die neue Regel für einen zahnlosen Papiertiger hält.
Der Grund für die Initiative des englischen Verbands liegt in der Vergangenheit. Auffällig viele frühere Fussballprofis leiden an Demenz, darunter mehrere Spieler von Englands Weltmeisterteam 1966. Durch deren Prominenz kommt das Thema regelmässig aufs Tapet. Studien der Universität Glasgow zeigen, dass Ex-Profis ein markant erhöhtes Risiko haben, an Demenz oder Parkinson zu sterben. Der Faktor «Kopfball» scheint wesentlichen Einfluss zu haben: Verteidiger haben ein deutlich höheres Risiko, an Demenz zu erkranken, als andere Feldspieler oder Torhüter.
Der Neuropathologe Willie Stewart sagte: «Anders als sonst wissen wir in diesem Fall, was der Risikofaktor ist. Es ist komplett vermeidbar, wir könnten derartige Folgen verhindern.» Seiner Meinung nach ist es zwingend erforderlich, Kopfbälle zu verbieten. Die Goalies, die als einzige Fussballer so gut wie nie in ein Kopfballduell steigen, waren von Demenz und anderen neurodegenerativen Erkrankungen ähnlich oft betroffen wie die Durchschnittsbevölkerung – das kann kaum ein Zufall sein. Für die Studie wurden die Daten von 8000 früheren schottischen Fussballern unter die Lupe genommen.
Für Stewart sind einerseits die Kräfte, die bei einem einzelnen Kopfball wirken, heikel. Andererseits ist es auch die Häufigkeit. «Muss man beim Training 50 oder 100 scharf geschossene Kopfbälle hintereinander üben?», fragt sich der Mediziner. Deshalb die Vorschrift der höchstens zehn Kopfbälle pro Trainingseinheit. Als problematisch gilt aber nicht nur der Kontakt von Stirn mit Ball, sondern auch, wenn ein Schädel in hohem Tempo auf einen anderen prallt. Eine Gehirnerschütterung kann die Folge einer solchen Kollision sein.
In der Schweiz seien die Teamärzte angewiesen, beim kleinsten Verdacht auf Hirnerschütterung eine Auswechslung anzuordnen, sagte Adrian Knup, der Sportchef der Swiss Football League, unlängst im SRF.
Der frühere Nationalstürmer würde eine Regeländerung begrüssen, die derzeit in verschiedenen Ligen getestet wird. So darf etwa in England eine Mannschaft einen zusätzlichen Wechsel vornehmen, wenn ein Spieler mit dem Verdacht auf eine Gehirnerschütterung ausscheidet. «Das wäre ein weiterer Schritt in die richtige Richtung», findet Knup, der selber als kopfballstark galt.
In Deutschland sind neurologische Tests vor der Saison vorgeschrieben. Bei diesen werden von jedem Spieler die Werte in gesundem Zustand erfasst. Nach einer möglichen Kopfverletzung können die Werte abgeglichen und es kann eine Diagnose gestellt werden. Laut Knup soll die Machbarkeit dieses Vorgehens in der Schweiz geprüft werden.
Derweil fand kürzlich in England ein erstes Fussballspiel mit geänderten Regeln statt. Beim Benefizspiel auf dem Platz des Sechstligisten Spennymoor Town waren Kopfbälle in der ersten Halbzeit nur im Strafraum erlaubt, nach der Pause waren sie verboten.
Mark Tinkler, der einst in der Premier League für Leeds United spielte, stand auf dem Platz. Bei «The Athletic» schilderte er: «Nach 20 Sekunden kam ein hoher Ball, ich sprang hoch und nickte ihn zu meinem Teamkollegen – da pfiff der Schiedsrichter einen Freistoss gegen mich. Das war Instinkt.» Der Verzicht auf Kopfbälle bringe eine neue Dimension ins Spiel, bemerkte Tinkler, «du musst schneller denken, den Ball auf die Brust bringen und andere Lösungen finden.»
Der europäische Fussballverband UEFA veröffentlichte im vergangenen Sommer Richtlinien zum Kopfballspiel im Nachwuchsbereich (Download als PDF-Datei). Prof. Dr. Tim Meyer als Präsident der medizinischen Kommission der UEFA sprach von «Mindestempfehlungen», die eine Orientierungshilfe für Trainer, Spieler und Eltern darstellten.
Unter anderem ruft die UEFA dazu auf, die Kopfballübungen im Training «so weit wie möglich» zu verringern. Ausserdem rät sie zur Stärkung der Nackenmuskulatur. Untersuchungen hätten gezeigt, dass dadurch die Krafteinwirkung auf den Kopf verringert werde.
Das Thema wird die Fussballwelt noch lange beschäftigen. Das Verbot von Kopfbällen wäre einschneidend und die vermutlich einflussreichste Regeländerung seit der Einführung der Rückpassregel 1992.