Im Surferort Byron Bay an der Westküste Australiens gibt es eine Bar, in der am Abend zwei ältere Pianisten die Partymeute mit Klassikern zum Singen und Tanzen bringen. Mitten in der Reihe der Hits hält am Samstag in der Nacht einer der Pianisten zwischen zwei Songs inne, dann sagt er ins Mikrofon: «Und wie geil sind eigentlich unsere Matildas? Es ist einfach nur unglaublich!» Applaus und Jubel entbrennt in der Bar.
Selbst in einem Surferdorf, wo der Fussball weit entfernt scheint, ist er in diesen Tagen das Hauptthema. Australien ist verzaubert von den Leistungen seines Frauenfussballteams während der heimischen Weltmeisterschaft. Nach dem Elfmeter-Krimi gegen Frankreich im Viertelfinal am Samstag fordern die «Matildas» am Mittwoch um 12 Uhr Schweizer Zeit die Europameisterinnen aus England.
Schon am Tag vor dem grossen Spiel ist der Andrang im Stadium Australia in Sydney riesig. Die vielen Medienschaffenden passen kaum in den Raum für die Pressekonferenzen. Jeder Sitz ist besetzt, in der Ecke drängen sich noch die letzten Journalistinnen in den Saal. «Ich glaube, wir brauchen einen grösseren Raum. So viele Menschen, wie sich hier für dieses Spiel interessieren», sagt Tony Gustavsson und lacht. Er ist als Nationaltrainer Baumeister des australischen Wintermärchens, das eine riesige Euphorie auslöst.
Der historische Erfolg gegen Frankreich wurde in Australien zum meistgesehenen Sportereignis im TV seit den Olympischen Spielen 2000 in Sydney, als die indigene Läuferin Cathy Freeman über 400 Meter die Goldmedaille holte. Diese Zahlen dürften im Halbfinal sogar noch höher werden. Das Stadium Australia wird mit über 75000 Zuschauenden natürlich ausverkauft sein. Doch nicht nur dieses Stadion, auch das Western Sydney Stadium und das Sydney Football Stadium öffnen ihre Tore für den Fussball. Dort ist die Partie auf Grossleinwänden zu sehen. Über das ganze Land verteilt finden grössere Public Viewings statt.
«Wir haben schon jetzt mehr ausgelöst, als wir uns das je vorgestellt haben», sagt Torhüterin Mackenzie Arnold über die Euphorie im Land. Die neue Nationalheldin hatte im Viertelfinal gegen Frankreich drei Penaltys pariert, ihren eigenen Versuch allerdings verschossen. «Natürlich geht unser Weg noch weiter, und wir wollen noch viel mehr. Aber wir haben es geschafft, die kommende Generation zu inspirieren. Diese Begeisterung im Land zu sehen, ist unglaublich», so Arnold, die an der Pressekonferenz zweifach gefragt wird, was sie davon hält, dass man noch immer kein Trikot von ihr kaufen könne.
Dieses wurde nie zum Verkauf angeboten, und auch die Trikots der Feldspielerinnen sind kaum mehr erhältlich. Im Land hat Ausrüster Nike Mühe, der hohen Nachfrage nachzukommen. In den letzten drei Monaten wurden so viele Trikots verkauft wie noch nie – auch nicht während einer Männer-WM. Die australische Version des Guardian publiziert deshalb eine Anleitung, wie man sich selber Fan-Utensilien basteln kann.
Während des ersten WM-Halbfinals zwischen Spanien und Schweden drängen sich Menschenmassen in die Fanzone in Sydney vor die grossen Leinwände. Viele tragen Trikots von Spanien oder Schweden, die meisten aber tragen Fanutensilien der «Matildas». So etwa Amelia McVeigh.
Die 34-Jährige aus Sydney ist seit Jahren Anhängerin des Frauenteams und kann kaum glauben, was in den letzten Wochen geschehen ist. «Es ist schlicht unglaublich. Früher interessierte sich niemand für unser Team, und jetzt sind alle Fans. Die Entwicklung ist grossartig», so McVeigh. Die Spielerinnen würden in der Öffentlichkeit sympathisch auftreten, das helfe der Beliebtheit. «Wir Australier können uns für Teamsportarten begeistern. Viele haben auch gemerkt, dass es möglich ist, von mehreren Sportarten Fan zu sein.»
Tatsächlich steht selbst der Männerfussball in Australien im Schatten von Rugby oder Cricket. Und der Frauenfussball interessierte bis anhin niemand. Noch um die Jahrtausendwende posierten mehrere Nationalspielerinnen nackt für einen Kalender, um wenigstens ein bisschen Aufmerksamkeit für das Team zu erregen. Als das Team 2003 zur WM reiste, erschien dennoch kein Journalist an der Medienkonferenz am Flughafen.
Nun aber interessiert Fussball so sehr, dass Premierminister Anthony Albanese bei einem Titelgewinn einen zusätzlichen Feiertag angekündigt hatte. Dass ausgerechnet die Frauen den Fussball populärer machen, bedeutet weiblichen Fans viel. Jasmine Zeidan-Maria aus Melbourne, die für den Halbfinal und den Final angereist ist, sagt: «Unser Team inspiriert junge Mädchen zum Fussballspielen.» Früher habe sie selber gekickt, damals sei sie aber eines von wenigen Mädchen gewesen. «Und nun ist es bei den Kindern sehr ausgeglichen.» Selbst Jungs tragen nun Trikots des australischen Superstars Sam Kerr.
Mit England treffen die Australierinnen nun auf einen grossen Rivalen. Die Europameisterinnen gehen als Favoritinnen ins Spiel, verfügen über mehr Topspielerinnen. «Auf dem Papier sind sie vielleicht Favorit», sagt Trainer Gustavsson. «Aber wir haben den Glauben daran, dass uns der Support auch diesmal tragen kann.» Denn der australische Traum soll noch nicht enden. (aargauerzeitung.ch)