Ein Fussballstadion. Eine Mannschaft, die eine Trainingseinheit abhält. Nichts an der Situation scheint ungewöhnlich – bis der Raketenalarm ertönt und sich die Spieler in die Katakomben zurückziehen. Das Team heisst Schachtar Donezk und ist 15-facher ukrainischer Meister. Von der Stadt Donezk trennen die Spieler seit 2014 aber mehr als 700 Kilometer. Seit der Annexion der Krim durch Russland ist das Team nämlich in der Hauptstadt Kiew stationiert. Auch andere Vereine im Osten der Ukraine, wie beispielsweise Sorja Luhansk, ereilte dasselbe Schicksal.
Heute vor 10 Jahren spielte Schachtar Donezk das letzte Spiel in der Donbas-Arena in Donezk. Das 2008 errichtete Stadion war 2012 EM-Austragungsort. Bis zum Verbot durch die russischen Besatzer wurde das Stadion als Sammelpunkt für Hilfslieferungen genutzt. Seitdem steht es leer. pic.twitter.com/DLHpNYZ7eY
— Peter Althaus 🇺🇦 (@peteralthaus) May 2, 2024
Als am 24. Februar 2022 gegen 5 Uhr in der Früh russische Raketen in Richtung Ukraine flogen, wurde schnell klar, dass Fussballspielen im ganzen Land für eine Weile in den Hintergrund rücken würde. Nach einem halben Jahr Pause nahm die Premjer-Liha im August 2022 den Spielbetrieb schliesslich wieder auf, wenn auch unter erschwerten Bedingungen. Die Zuschauer fehlten lange, da die Kapazität der Luftschutzkeller beschränkt ist. Noch heute muss auch mal eine Partie wegen Luftalarms unterbrochen werden und kann teilweise erst am nächsten Tag zu Ende gespielt werden.
Auch die meisten ausländischen Spieler haben das Land und die Liga verlassen. Donezk, das Team des reichsten ukrainischen Unternehmers, Rinat Achmetow, hatte in der Vergangenheit immer wieder junge brasilianische Talente in die Ukraine geholt – einige kommen noch immer, trotz Krieg. So wechselte im Januar 2024 der 21-jährige Kevin von Palmeiras São Paulo nach Donetzk, oder muss man sagen, nach Kiew?
Das Niveau der ukrainischen Liga mag aufgrund der erschwerten Bedingungen und der Abwanderung der ausländischen Spieler gesunken sein. In der UEFA-Fünfjahreswertung lag die Premjer-Liha vor dem Krieg noch auf Rang 9, heute reicht es nur noch für Platz 18. Dennoch konnte der Meister Donezk in der Champions-League-Gruppenphase in Hamburg, wo das Team die internationalen «Heimspiele» austrägt, dem FC Barcelona einen 1:0-Sieg abringen.
Macht es Sinn, Fussball zu spielen, während andere vor dem Krieg flüchten oder in den Schützengräben sterben? Der Fussball, so argumentieren Befürworter des wiederaufgenommenen Spielbetriebs, helfe der Bevölkerung, zumindest ein wenig von den Schrecken des Krieges abgelenkt zu werden. Auch Präsident Wolodymyr Selenskyj äussert sich zuweilen euphorisch, wenn ukrainische Teams Erfolge feiern. Dass Spieler der obersten Liga und des Nationalteams die Wehrpflicht oftmals umgehen können, stösst aber auch auf Kritik.
Alexander Resnitschenko, Manager des Vereins Obolon Kyjiw, begründete die Tatsache, dass seine Spieler nicht an der Front sind, einmal damit, dass «der Klub den Status als eine Einrichtung habe, die für die Wirtschaft des Landes von entscheidender Bedeutung ist». Eine Äusserung, die bei vielen Ukrainerinnen und Ukrainern auf Unmut stiess. 2023 wurde zudem bekannt, dass ein Zweitligaverein aus dem Westen des Landes Spieler bei einem Sicherheitsunternehmen angestellt hätte, um die Wehrpflicht zu umgehen.
Diese Gratwanderung, auf welcher sich Fussballer in der Ukraine befinden, erkennt auch Taras Stepanenko von Schachtar Donezks: «Uns ist bewusst, dass viele Jungs in unserem Alter im Schützengraben sitzen», meint der 34-jährige Mittelfeldspieler, der 81 Spiele für die ukrainische Nationalmannschaft absolviert hat. Das Team, so Stepanenko, versuche aber auf andere Art und Weise, die Personen an der Front zu unterstützen. So sammelt der Verein regelmässig Geld, um damit Material zu kaufen – beispielsweise kugelsichere Westen –, das dann an die Soldatinnen und Soldaten verteilt wird.
Auch die Organisation Stands for Heroes ist ein Beispiel dafür, wie der ukrainische Fussball versucht, das Land zu unterstützen. Die Organisation, die von verschiedenen Vereinen, Fussballern und auch Sportjournalistinnen und -journalisten getragen wird, unterstützt Familien von Fussballfans, die im Krieg gefallen sind.
Eine dieser Familien ist Oksana Chuchman mit ihren drei Kindern. Seit ihr Mann nicht mehr von der Front zurückgekehrt ist, erhält sie von Stands for Heroes nicht nur finanzielle Unterstützung. Dank der Organisation konnte sie mit ihren Kindern und anderen Angehörigen von verstorbenen Soldaten nach Breslau (Polen) reisen und live zuschauen, wie sich die ukrainische Nationalmannschaft im vergangenen März im Exil gegen Island mit einem 2:1-Sieg die Qualifikation für die EM 2024 sicherte. «Die Spieler sind so alt wie unsere Jungs, die im Krieg gefallen sind», meinte eine Mutter, die ebenfalls mit Stands for Heroes nach Breslau reiste, gegenüber dem Fernsehsender Arte.
Auch wenn sich der ukrainische Fussball auf Messers Schneide bewegt, gibt er vielen Ukrainerinnen und Ukrainern Hoffnung. Dies zeigt auch die Qualifikation der Nationalmannschaft für die Euro 2024 in Deutschland. «Im dritten Jahr des Angriffskriegs gegen die Ukraine kann man die Bedeutung dieses Ereignisses für eine bedrohte Nation nicht hoch genug einschätzen», meint die ukrainische Kulturmanagerin Bella Khadarsteva in einer Arte-Dokumentation, die den Fussball in Zeiten des russischen Angriffskriegs beleuchtet. Die EM, so beschreibt es Khadarsteva, vermittle den Menschen in der Ukraine das Gefühl, zu Europa dazuzugehören.
Wenn die Ukraine ab dem 14. Juni gegen Belgien, Rumänien und die Slowakei um den Einzug in den EM-Achtelfinal kämpft, wird auch Dmytro Bohdanov gespannt zuschauen. Der 17-Jährige ist ein weiteres Beispiel dafür, wie der Krieg die ukrainische Fussballwelt verändert.
Der Mittelstürmer ist eines der grossen ukrainischen Nachwuchstalente, das nun im Exil an seinem Traum vom Profifussballer arbeiten muss. Nachdem er einige Monate alleine trainiert hatte, fand er über einen Bekannten Anschluss bei der Jugendabteilung von Dynamo Dresden und spielt zudem in der ukrainischen U-17-Nationalmannschaft. Auch dank Bohdanovs fünf Toren in der EM-Quali – er traf auch beim 3:0-Sieg über die Schweiz – durfte er mit seinem Team nach Zypern reisen, wo in diesen Tagen die U-17-EM stattfindet. Für die Viertelfinalqualifikation reichte es den ukrainischen Nachwuchsfussballern jedoch nicht.
Als sich die ukrainische A-Nationalmannschaft für die EM qualifizierte, sass auch Dmytro Bohdanov mit seiner Familie vor dem Fernseher. Nichts an der Situation scheint ungewöhnlich – bis einem bewusst wird, dass das Land, das sich gerade für die Endrunde qualifiziert hat, in Trümmern liegt.
Zum provisorischen Kader, das mit der Nationalmannschaft nach Deutschland reist, gehören auch Stepanenko sowie fünf weitere Spieler des nach Kiew verbannten Vereins Schachtar Donetzk. Stepanenko sieht im Auftritt der Ukrainer auch einen symbolischen Wert: «Wir wollen mit der EM Leute in Europa erreichen, die nicht wissen, was in der Ukraine passiert, oder die des Krieges überdrüssig sind.»