«Für England zu spielen, ist ein schönes Gefühl, aber der Druck ist gross, und die Leute reden eine Menge Müll», sagte Jude Bellingham nach dem Last-Minute-Sieg über die Slowakei. Der 21-Jährige hatte England kurz zuvor mit einem wunderschönen Fallrückzieher-Tor in die Verlängerung gerettet. Angesichts dieses «Mülls» setzte Bellingham auch gleich zu einem Seitenhieb in Richtung Kritiker an: Es sei schön, sagte er, «dass man ihnen ein bisschen was zurückgeben kann».
"I think you know what I mean by the rubbish."
— BBC Sport (@BBCSport) July 1, 2024
Jude Bellingham had a few things to get off his chest after Sunday's victory over Slovakia.#Euro2024 pic.twitter.com/Ow19an2idA
Nachdem England bisher mit angezogener Handbremse durch das Turnier geschlittert ist, erstaunt es wenig, dass das Team im Mutterland des Fussballs unter medialem Beschuss ist. Und obwohl die Kritik vor allem den Trainer Gareth Southgate trifft, der sich wie ein Schutzschild vor seine Spieler stellt, reagierten die England-Akteure darauf zuweilen empfindlich, wie die Aussage von Bellingham illustriert.
Gary Neville, der als Trainer und Spieler des englischen Nationalteams Zeiten erlebt hat, in denen der mediale Wind auf der Insel noch rauer wehte, meinte zu dieser Verteidigungshaltung: «Die Spieler reagieren an dieser EM auf Kritik von aussen wie die früheren England-Spieler. Sie hören plötzlich auf den Lärm, der von aussen kommt.» Dabei, so Neville weiter, «hat sie niemand persönlich kritisiert, niemand hat ihren Charakter in Frage gestellt, niemand hat gesagt, dass sie nicht hart arbeiten. Wir haben nur gesagt, dass sie nicht sehr gut Fussball spielen. Die Kritik am Fussball ist eine berechtigte Kritik.»
Angesichts der verhärteten Fronten scheint es fast so, als habe sich im englischen Team eine Art «Wir gegen die Welt»-Mentalität etabliert. Eine Denkweise, die mitunter ungeahnte Kräfte freizusetzen vermag. Etwas, das auch die Schweizer Nationalmannschaft schon erfahren hat. Als das Team in der Vorrunde der EM 2021 von allen Seiten torpediert wurde – auch aufgrund des extra eingeflogenen Friseurs –, meinte Manuel Akanji: «Die Kritik schweisst uns noch mehr zu einer Mannschaft zusammen. Darum waren auch solche Leistungen möglich – das ist nicht der einzige Grund, aber auch einer.»
Gegenüber The Athletic sagte der Psychologe Dan Abrahams über das Phänomen, dass Kritik eine Mannschaft näher zusammenbringen kann: «Ein Team kann sich darauf einigen, dass die Aussenwelt gegen sie ist, und so schaffen sie ein Narrativ, eine Sprache im Team, die sie teilen und gemeinsam verstärken können, was letztlich die Aufmerksamkeit, die Intensität und die Absicht des Verhaltens und der Handlungen steigert.» Diese Mentalität, so Abrahams, könne sich durchaus positiv auf die Leistung auf dem Platz auswirken, es bestehe aber auch die Gefahr, dass die Spieler dadurch abgelenkt werden.
Und tatsächlich scheint es so, als würde sich das englische Team – genau wie die Schweiz, als sie 2021 nach einer durchzogenen Vorrunde gegen Frankreich zum ersten Mal den Viertelfinaleinzug schaffte – vor dem Spiel gegen die Nati wieder zusammenraufen. Der knorzige Sieg im Achtelfinal könnte also eine Art Weckruf gewesen sein. So meinte Harry Kane zu Bellinghams Ausgleichstreffer gegen die Slowakei: «Das sind die Momente, auf die man vielleicht in zehn oder elf Tagen zurückblickt – wann immer das Finale ist – und sagt: ‹Wow – das war der Wendepunkt. Ich denke, das kann zu 100 Prozent der Funke sein, den das Team gebraucht hat.›»
Und glaubt man Kane, so hat sich die Kommunikation zwischen dem Team und dem Trainer verbessert, auch was die Mitsprache der Spieler in taktischen Belangen betrifft: «Es gab definitiv mehr Diskussionen zwischen den Spielern und mit dem Trainerstab darüber, wie wir uns auf dem Spielfeld fühlen.»
Und diese Diskussionen dürften auch dazu beigetragen haben, dass England gegen die Schweiz höchstwahrscheinlich nicht mehr mit einer Viererkette – wie noch gegen Dänemark und die Slowakei –, sondern mit einer Dreierkette antreten wird. Für die Schweiz ist das keine gute Nachricht. Trainer Murat Yakin sagte gegenüber SRF: «Wenn sie uns mit einer Dreierkette spiegeln, dann wird es ein offenes Spiel, dann geht es darum, wer die Positionen individuell besser besetzt hat.»
Gut möglich, dass das englische Team aus den turbulenten Tagen an der Europameisterschaft Kraft geschöpft hat, denn eine «Wir gegen die Welt»-Dynamik kann sich durchaus positiv auf den Teamgeist auswirken. Aber das Beispiel der Schweiz zeigt auch: Zwar wuchs das Team um Vladimir Petkovic 2021 trotz Kritik über sich hinaus, aber die Nati war selten besser als an dieser EM, an der die Atmosphäre im und um das Team so ruhig und harmonisch ist, wie schon lange nicht mehr.
Aber schlussendlich wird sich erst auf dem Platz wirklich zeigen, wer die Nase vorne hat. Oder um es in Harry Kanes Worten auszudrücken: «Jetzt geht es nur noch darum, auf den Platz zu gehen und den Fussball sprechen zu lassen.»
Unsere Nati hat ihre "Pflicht" mit der Qualifikation für den Achtelfinal bereits erfüllt und kann unbesorgt aufspielen.
Das wird für uns sowiso eine super Sache dieser Viertelfinal.
Die Jungs kämpfen an dieser EM endlich bis zum Letzten.
Das war eigentlich immer mein einziger Kritikpunkt an vergangenen Turnieren.