Ein Spielunterbruch zwischen Nizza und Lyon sorgt für einen politischen Skandal
Es ist die 86. Minute des Ligue-1-Spiels zwischen Nizza und Lyon am Samstagabend. Nizza führt mit 3:1, als plötzlich der Schiedsrichter Jérôme Brisard das Spiel unterbricht. Der Grund? Er hat homophobe Gesänge auf den Tribünen gehört. Gemäss dem Protokoll im französischen Fussball muss der Schiedsrichter das Spiel vorübergehend unterbrechen, bis diese Gesänge aufhören.
Nur: Die TV-Kommentatoren von beIN – und sie sind bei weitem nicht die einzigen – sind fassungslos über die Entscheidung des Schiedsrichters:
Tatsächlich kennt der Schiedsrichter die Tradition der Fans aus Nizza nicht, deren problematischer Gesang lautet: «Daech, Daech, wir ficken dich!» Seit 2016 gedenken sie bei jedem Heimspiel in der 86. Minute den 86 Opfern des Anschlags, zu dem sich die Terrororganisation Islamischer Staat (auch Daech gennant) bekannt hat und der am 14. Juli 2016 in Nizza verübt wurde.
Zusätzlich zu diesem Anti-Daech-Gesang werden auf den Großbildschirmen des Stadions Herzen mit den Namen der Opfer projiziert, und alle Zuschauer schalten die Taschenlampen ihrer Mobiltelefone ein.
Die Szene im Video:
Die Unterbrechung dieser Ehrung durch den Schiedsrichter – auch wenn sie vulgäre Ausdrücke enthielt (allerdings gegenüber einer Terrororganisation) – schockierte Zuschauer, Spieler, Mitarbeiter und Führungskräfte von Nizza, die alle gegenüber dem Schiedsrichter auf dem Spielfeld ihr Unverständnis zum Ausdruck brachten.
Um die Vorschriften des französischen Fussballverbands (FFF) genauestens einzuhalten, bat Jérôme Brisard den Stadionsprecher, eine offizielle Durchsage zu machen, um diesen Gesang zu unterbinden. Der Stadionsprecher kam dieser Aufforderung nach und schüttelte dabei entsetzt den Kopf. «Hier ist meiner Meinung nach Augenmass gefragt. Das ist lächerlich! Das geht auf eine Fehleinschätzung zurück», empörten sich die TV-Kommentatoren über die Entscheidung des Schiedsrichters.
Es sei angemerkt, dass dies nicht den gewünschten Effekt hatte, ganz im Gegenteil! Jedes Mal, während der Unterbrechung und unmittelbar nach der Wiederaufnahme des Spiels zwei Minuten später, wurde der Anti-Daech-Gesang von den Ultras aus Nizza noch lauter angestimmt, unter dem Beifall von Trainer Franck Haise.
«Mangelnder Respekt vor den Opfern»
Das Handeln von Schiedsrichter Brisard löste nach dem Spiel (das Nizza am Ende mit 3:2 gewann) ebenfalls heftige Reaktionen aus. Allen voran die des Vereins OGC Nice, der eine Pressemitteilung mit dem eindeutigen Titel «Inakzeptabel» verfasste, in der sich der Präsident Fabrice Bocquet äusserte:
Der Nizza-Boss weist in der Folge auf die mangelnde Kenntnis des Kontextes seitens des Schiedsrichters hin:
Auch der Bürgermeister von Nizza, Christian Estrosi, kritisierte auf X die «völlig unverständliche Entscheidung», das Spiel in der 86. Minute zu unterbrechen. Er fügte hinzu, dass «ein wenig Vorbereitung und Urteilsvermögen in solchen Situationen nicht schaden würde».
Der französische Schiedsrichterchef Antony Gautier verteidigte seinen Kollegen, räumte jedoch ein, dass er das Spiel nicht hätte unterbrechen dürfen. «Ich habe mich nach dem Spiel kurz mit Jérôme unterhalten. Er hat zwar deutlich ‹on t'enc ...› gehört, aber das erste Wort, nämlich ‹Daech›, nicht. Hätte er den Kontext gekannt, hätte er das Spiel ausnahmsweise nicht unterbrochen», erklärte er gegenüber L'Equipe.
Antony Gautier fasst zusammen:
Es bleibt also abzuwarten, ob der französische Verband künftig kurze Kurse für seine Schiedsrichter über die Besonderheiten jedes Vereins und seiner Fans anbieten wird, um die Spielleiter bestmöglich vorzubereiten und neue Missverständnisse wie am Samstagabend in Nizza zu vermeiden.
