In einer ganz neuen Melodie singen internationale Englandfans: «It's coming home. It's coming home. It's coming home. It's coming home.»
Vor lauter Begeisterung geht der Abschnitt «Football's coming Home» von Englands grösster Fussballhymne völlig unter.
Apparently it’s coming home 🏴 pic.twitter.com/aO52KAcuf1
— Simon Peach (@SimonPeach) November 15, 2022
Es ist nur eines von vielen Videos, die im Vorfeld der WM weltweit für Aufsehen sorgten. Von Männern in Fussballtrikots, die mit Fahnen und Schals durch die Strassen von Doha marschieren und eine Mannschaft supporten, von der sie vermutlich nur einige Spielernamen kennen.
Sie stammen – so wird kolportiert – aus Sri Lanka. Oder Indien. Oder sonst wo aus Asien. Sicher aber stammen sie nicht aus dem Land, von dem sie das Trikot tragen.
Die Engländer, die den Status als Mutterland des Fussballs geniessen, amüsieren sich über ihre «neue» Fangemeinschaft. «Enttäuschend, ich hätte Sweet Caroline erwartet», scherzt ein Twitter-User. «Im Video ist kein Bier zu sehen. Hier kann etwas nicht stimmen», schreibt ein anderer verwundert.
Doch es gibt auch böse Zungen.
Schon als die ersten Videos dieser doch eher untypischen Fangruppen in den sozialen Medien auftauchten, kam der Verdacht auf, dass die Fans bezahlt wurden, um die Stimmung im Land aufzuheizen – und um zu demonstrieren, dass es in Katar eine Fussballkultur gibt.
Gekaufte Fans. Das würde bei dieser WM perfekt ins Bild passen.
FIFA-Präsident Gianni Infantino gab sogleich ein Dementi ab. Bei seiner bizarren Pressekonferenz einen Tag vor WM-Beginn nannte er die Behauptungen eingekaufter Fans «puren Rassismus».
These Qatar hired fans 🤣🤣🤣 pic.twitter.com/sAvEZUXT85
— george (@StokeyyG2) November 16, 2022
Doch wer steckt denn jetzt hinter diesen «Fake Fans»? Und wie «fake» sind sie wirklich? Ich habe mit einigen von ihnen über Social Media Kontakt aufgenommen.
Der erste antwortet mir nach weniger als einer Minute:
Okay. Ist ja auch ziemlich was los in Doha. Nächster Versuch.
Bei einem weiteren Fan habe ich mehr Glück. Stolz posiert er auf seinem Profil im Argentinien-Trikot, im leeren Al Janoub Stadium in Katar oder vor der WM-Skulptur. Die Aufnahmen sind alle in den letzten sieben Wochen hochgeladen worden. Davor teilte er vor allem Bilder von Freunden, Sonnenuntergängen und Motorrädern. Auf den ersten Blick wirkt er wie bestellt und abgeholt.
Auf den zweiten Blick findet man aber nach einer kurzen Suche auf seinem Profil die Spur einer Fussballbegeisterung, die länger zurückliegt als zwei Monate. In seinen Highlights widmet er seinem Idol Lionel Messi einen ganzen Ordner. Der erste Beitrag liegt mehr als ein Jahr zurück.
Im Chat gibt er sich als Herzblut-Argentinien-Fan – nennen wir ihn Amal – zu erkennen. Er liebe die argentinische Nationalmannschaft wegen Fussballlegende Messi, der sei so bescheiden.
Auf meinen Hinweis, dass der bescheidene Messi schon vergoldete Steaks gegessen hat, reagiert er nicht. Bei der Frage, ob die ganze Familie die Argentinier unterstütze, ist er auskunftsfreudiger:
Eine Familie, so divers, dass man schon fast befürchten muss, die FIFA könnte intervenieren.
Amal, der begeisterte Argentinien-Fan, kommt aus Kerala, Indien. Der Bundesstaat an der Malabar-Küste am Arabischen Meer liegt unweit der Golfstaaten. Von rund 750'000 Inderinnen und Indern, die in Katar leben, stammt der grösste Teil aus Amals Heimat.
Seit rund zwei Monaten arbeite auch er für den Wüstenstaat. Um bei der Fussball-Weltmeisterschaft vor Ort mitfiebern zu können, habe er sich um eine Stelle im Fanshop des neu gebauten Stadium 974 in Doha beworben. Gleich nach der Zusage sei er mit seinem Bruder nach Katar gezogen. Rund drei Monate werden die beiden im WM-Austragungsland leben – und den Fussball zelebrieren.
Im Fanshop kümmere er sich hauptsächlich um die Buchhaltung. Der Job mache ihm Spass, er ist aber vor allem geknüpft an einen Wunsch: sein Idol («mit viel Glück») im Stadion anzutreffen, Lionel Messi. Tickets für das Spiel Argentinien gegen Polen habe sein Bruder organisiert. Wie viel er dafür bezahlte, wisse er nicht.
Pro Tag arbeite er zwischen 10 und 12 Stunden zu einem Stundenlohn von 15 Riyal (umgerechnet 3.80 Franken). Überprüfen können wir diese Angaben nicht. Der monatliche Mindestlohn für Arbeitsmigranten liegt seit 2020 bei 1000 Riyal (umgerechnet 254 Schweizer Franken). Stimmen die Angaben Amals, dann wird ihm ein deutlich höheres Einkommen bezahlt, als es der gesetzliche Mindestlohn vorgeben würde.
Amal antwortet jeweils unverblümt auf meine Nachfragen.
Den Vorwurf, es handle sich bei den Fangruppierungen um reine «Fake Fans», hat auch er schon mitbekommen. Er allerdings beteuert auf meine Nachfrage:
Fake News nennt er die News über die Fake Fans, die bezahlt würden, um für gute Stimmung im Land zu sorgen.
Viele der Menschen, die sich Trikots von Spitzenklubs überstülpten und durch die Strassen von Doha zögen, kämen aus seiner Heimat Kerala sowie aus Malaysia. «Fussball ist deren Leidenschaft», schreibt Amal.
Football Fans from Pullavoor in #Kerala are #FIFAWorldCup Ready 😍 #Qatar2022 pic.twitter.com/vwMsPZC028
— The Football Dug Out (@tfdo_) November 9, 2022
Ein grosser Teil der argentinischen Fangemeinschaft, die in blau-weissen Trikots Fahnen schwingt und auf Trommeln schlägt, befinde sich seit geraumer Zeit in Katar, andere seien aus der indischen Heimat angereist, um ihr Lieblingsteam zu unterstützen.
Durch Bezahlung? Amal bestreitet, dass er oder einige seiner Gleichgesinnten bezahlt werden, um sich ein Trikot überzustülpen. Er verweist auf die geografische Lage Katars, die den Menschen aus Indien und Malaysia zugutekäme. Ein Direktflug aus Kerala nach Katar dauert rund vier Stunden, von Malaysia rund sieben Stunden.
Um mir zu beweisen, dass seine Heimat fussballverrückt ist, schickt Amal mir einen indischen Film, der jubelnde Inder in Argentinien-Trikots zeigt. Es ist nicht der einzige Film, der die Begeisterung für Argentiniens Nationalmannschaft zeigt. Ein FIFA-Film aus dem Jahr 2022 zeigt, dass diese Begeisterung tief verwurzelt ist.
Ein Schlüsselmoment soll die Fussballweltmeisterschaft 1986 gewesen sei, als sich die indische Bevölkerung zunehmend ein Fernsehgerät leisten und so die WM mitverfolgen konnte. Damals holte sich Diego Maradona den Pokal fast im Alleingang.
Als die Fussballlegende als Markenbotschafter 2021 Kerala besuchte, eroberte sie noch mehr indische Herzen. Umso grösser war die Trauer um den «Fussballgott». Nach seinem Tod fand im Bundesstaat Kerala eine zweitägige Staatstrauer statt. «Er hat Tausenden von Menschen grossartige Erinnerungen geschenkt und wird den Menschen im Staat immer in Erinnerung bleiben», schrieb die Zeitung Times of India. Die Leidenschaft für Argentinien und Messi, Martínez, Di María und Co. kommt also nicht von ungefähr.
Eine Frage drängt sich mir aber noch auf: Gibt es auch eine indische Fangemeinschaft der Schweizer Nati? «Yes Ma'am», schreibt Amal. «I will take pictures for you», verspricht er mir.
Klar ist: Mit einem Schweizer Maradona hätte dies wenig zu tun.
Maeggymore
Präventionsparadox
Andi Weibel
Für diesen Satz liebe ich diese Art von Sportjournalismus.