Eigentlich stieg Lutsch-Energija Wladiwostok letzte Saison aus der zweithöchsten russischen Liga ab. Das Team erreichte nur den 18. von 20 Plätzen und damit einen der fünf Abstiegsränge. Aber dann geschah, was in Russland halt geschehen kann: Alle fünf Absteiger hielten die Klasse. Die Gründe:
So spielt das Team mit dem Tigerwappen noch immer in der heute beginnenden 1.-Division-Meisterschaft mit. Freuen wird dies höchstens einen der 19 Gegner. Denn abgelegener als Wladiwostok kann ein Fussballklub kaum liegen.
Die Mannschaft von Wladiwostok trägt nur ein Spiel gegen einen Gegner aus der gleichen Zeitzone (!) aus. Zwei Teams (Sibir Nowosibirsk und Tom Tomsk) weisen drei Stunden Unterschied aus, ein Team (Tyumen) fünf, 14 Mannschaften sieben Stunden Zeitunterschied und für die Partie gegen Baltika Kaliningrad müssen gar acht Zeitzonen durchquert werden.
Über 220'000 Kilometer Auswärtsfahrten in einer Saison. Gehen wir davon aus, dass das Team jeweils mit einem direkten Charterflug anreisen kann, sitzt die Equipe rund 400 Stunden im Jahr im Flugzeug für Auswärtsreisen. Das entspricht knapp 17 Tagen. Oder 16-mal von Zürich nach New York retour.
Der am naheliegendste Gegner von Lutsch-Energija ist in Chabarowsk zuhause. Für das «Derby» reisen die Spieler ca. 750 Kilometer weit. Das entspricht fast der Distanz zwischen Schweizer Meister YB und RB Leipzig.
Der weiteste Weg führt mit 10'400 Kilometern auf dem Landweg nach Kaliningrad, also ungefähr die Strecke von Bern nach Mombasa in Kenia.
In der Schweiz ist der «abgelegenste» Superligist Lugano. Die Tessiner sind mit ihren rund 8592 Kilometern für Auswärtsfahrten pro Saison aber noch sehr gut bedient. Lugano könnte nämlich fast 26 Spielzeiten in der aktuellen Super League bestreiten und hätte erst dann die Distanz einer Saison von Lutsch-Energija.
Selbst im Schweizer Amateurfussball gibt es ein Team, das pro Auswärtsmatch mindestens 100 Kilometer zurücklegen muss. Es ist dies der Bündner Drittligist Valposchiavo Calcio. Der nächstgelegene Gegner in der neuen Saison ist mit 102 Kilometern Entfernung Thusis-Cazis, am längsten dauert die Anreise ins glarnerische Netstal (193 Kilometer). Während der ganzen Saison wird das Team rund 3000 Kilometer für die elf Auswärtsspiele zurücklegen.
Den Weg über den Bernina und wahlweise Julier, Albula, Flüela oder den Autoverlad Vereina nahmen in den letzten Jahren leider nicht immer alle Gegner gerne in Kauf. Im Mai 2017 beklagten sich die B-Junioren aus dem Puschlav in der «Südostschweiz», dass nur zwei ihrer sechs letzten Heimspiele ausgetragen wurden. Den anderen war die Anfahrt zu mühsam.
Vergleichen wir die Distanz von Lutsch-Energija noch mit Real Madrid, dem aktuellen Champions-League-Sieger. Die Madrilenen legten in der abgelaufenen Saison ca. 84'400 Kilometer zurück. Allerdings sind darin sämtliche Partien inklusive Europacup, nationaler Cup, Klub-WM, Supercups und Vorsaisons-Testspiele in den USA miteinbegriffen. Real Madrid müsste also zweieinhalb Saisons lang so viele Partien absolvieren, wie in der letzten Spielzeit, um die Reisedistanzen von einer Lutsch-Energija-Saison zu erreichen.
Lutsch-Energija spielte zwischen 2005 und 2008 auch schon in der höchsten russischen Liga. Weil die Russen in der Hauptstadtregion die Spiele jeweils nachmittags sehen wollten, wurde bei Wladiwostok-Heimspielen um 8 oder 9 Uhr morgens angepfiffen. Auswärts gab es damals jeweils – ähnlich wie in der NHL – gleich zwei bis drei Partien nacheinander.
Die Regionalverwaltung wollte zusammen mit dem Energiekonzern «Dalenergo» gar die nationale Spitze erobern und den europäischen Fussball aufmischen. Das Ziel wurde verfehlt. Das erspart (bisher) aber auch eine theoretisch mögliche Europacup-Partie auf den Azoren. In Portugal stieg mit Santa Clara aus Ponta Delgada das westlichste UEFA-Mitglied in die höchste Spielklasse auf.
Die Anreise würde mit einem theoretischen Direktflug 23 Stunden dauern (der momentan längste Direktflug dauert 18 Stunden). Ein aktuell einigermassen sinnvoller Anreiseweg wäre Wladiwostok – Nowosibirsk – Moskau – Lissabon – Azoren. Unterwegs wäre das Team rund 25 Stunden. Immerhin ist der Preis für diese lange Reise ein Schnäppchen: nur ca. 1600 Euro.
Santa Clara spielte übrigens tatsächlich einmal europäisch. Die Kicker von den Azoren mussten 2002 für die erste Runde im UI-Cup fast 6000 Kilometer nach Gyumri (Armenien) zurücklegen. Vorerst bleibt die Distanz-Bestmarke sowieso in Portugal. Sporting Lissabon und Astana halten den Rekord der längsten Anreise im UEFA-Gebiet. Sie trafen in der Champions League 2015/16 aufeinander (6174 Kilometer für einen Weg).
Moskau liegt rund 6400 Kilometer Luftlinie von Wladiwostok entfernt. Ein Flug dauert 8:30 Stunden. Japans Hauptstadt Tokio trennen nur rund 1000 Kilometer Luftlinie von der ostrussischen Stadt am Pazifik. Da würde es Sinn machen, wenn Lutsch-Energija in Japans Liga unterkommen würde.
Doch nicht nur bei einer Teilnahme im Land des Lächelns würden die Auswärtsfahrten (teilweise) markant kürzer. Bei der Liga-Teilnahme in sage und schreibe 33 FIFA-Mitgliedsländern hätten die Spieler von Wladiwostok weniger lange Anreisen im Gegensatz zur russischen Liga.