Da stehen sie also, das Gesicht für immer in die Abendsonne gerichtet, hinaus auf den Mersey River, hinaus in die Welt. Die Beatles in Bronze verewigt. Paul McCartney, George Harrison, Ringo Starr und John Lennon waren und sind noch immer die berühmtesten Söhne Liverpools. In den 60er-Jahren haben sie die Musikwelt erobert, heute ist ihre Statue eines der beliebtesten Fotosujets für Touristen. Fast zeitgleich mit dem Aufstieg der Pilzköpfe zu Popikonen begann jener des FC Liverpool zu einem Fussballklub von Weltformat.
Nächsten Dienstag kommt der grosse FC Bayern München in die Stadt, Achtelfinal der Champions League. Deutschland ist in Aufruhr. Der taumelnde Riese Bayern trifft auf Jürgen Klopp, den Riesentöter, den Mann, der den Dominator der Bundesliga letztmals vom Thron stiess. 2011 und 2012 wurde Klopp mit Dortmund deutscher Meister. Seither haben die Münchner sechs Titel in Serie gefeiert.
«Die Bayern sind einer jener Vereine, die die Champions League während der letzten zehn Jahre immer hätten gewinnen können. Sie mischten ganz vorne mit», sagt Klopp. Auf Deutsch. Denn der Hype um ihn ist gross in diesen Tagen. In England, aber auch in Deutschland. Bei der Pressekonferenz vor dem letzten Liga-Spiel gegen Bournemouth sind gleich vier deutschsprachige Journalisten zugegen
Klopp stand im Frühling letztes Jahr in Kiew im Final der Königsklasse. Doch er verlor erst Topskorer Mohamed Salah (ausgehebelt von Real-Verteidiger Sergio Ramos) und dann das Spiel. 1:3 tauchten die Reds gegen Real. Und so feierte das weisse Ballett den dritten Champions-League-Titel in Serie, während die Engländer bittere Tränen weinten. Also «all in» für den Titel in der Königsklasse? «Wenn ich die Wahl hätte zwischen einem Sieg gegen Bayern und dem Titel in der Meisterschaft, zögerte ich keine Sekunde: Ich nähme die Meisterschaft.»
Der Mann, der das sagt, ist nicht nur «seit Geburt» Fan des FC Liverpool. Peter Hooton ist Sänger von «The Farm». «Spartacus» heisst das Album, mit dem der heute 56-Jährige und seine Band 1991 die Spitze der englischen Charts erklommen. Nur ein Jahr, nachdem seine Reds letztmals Meister wurden.
Ich treffe Hooton wenige hundert Meter von der Anfield Road entfernt im Hotel Tia. Es ist Freitagabend. Und wie vor jedem Spiel gibt es im Tia einen Quizabend. Hooton ist Quizmaster. So gut wie er kennen den Klub nur wenige, das zeigt sich schnell im Gespräch.
Ende der 60er hat ihn sein Grossvater mit dem Liverpool-Virus infiziert, ab Anfang der 70er besuchte Hooton fast alle Heimspiele. Dann war er einer der führenden Köpfe im Protest gegen die amerikanischen Klubbesitzer Tom Hicks und George Gillett, die den Klub zwischen 2007 und 2010 fast zugrunde gerichtet hätten. Und er hat eben erst das Buch «The Boot Room Boys» veröffentlicht. Ein Blick auf die Zeit, als Bill Shankly den Klub verwandelte. Von der grauen Maus in Englands zweiter Liga zum Weltverein mit Anhängern rund um den Globus. Vor allem auch in Norwegen. Fast 40000 Norweger sind Mitglied des offiziellen Fanklubs. Jedes Wochenende pilgern bis zu 1500 Norweger ins Stadion. Knapp 20 nächtigen jeweils im Tia, gegründet von drei Norwegern.
Als Bill Shankly 1959 Trainer von Liverpool wurde, da dümpelte dieser Klub in der zweithöchsten Liga herum. John Lennon war noch an der Kunsthochschule eingeschrieben und Paul McCartney verdiente sich ein paar zusätzliche Pfund als Aushilfe auf einer Poststelle. «Er war ein Messias für uns. Man lernte uns in der Schule den Katholizismus, aber wir verehrten Shankly mehr als Jesus», sagt Hooton.
Im Hintergrund Gelächter der norwegischen Liverpool-Anhänger. Über dem Shuffleboard-Tisch (eine Art Tisch-Curling) klackern die Pints.
Shankly schaffte 1962 den Aufstieg, 1964 wurden die Reds Meister. Bis 1990 sollten zwölf weitere Meistertitel dazukommen. «Damals, beim bisher letzten Titel, reagierten viele Fans so: ‹Ah, wir sind wieder Meister.› Wir waren abgestumpft von all den Erfolgen», erinnert sich Hooton. Und der Gast aus der Schweiz denkt zwangsläufig an Basel, die acht Titel in Serie, die Selbstverständlichkeit des Erfolgs.
Die Reds sicherten sich unter Shanklys Nachfolgern Bob Paisley und Joe Fagan viermal den Europapokal der Landesmeister, Vorgänger der Champions League. Liverpools goldene Ära, die Boot-Room-Ära. Benannt nach dem kleinen Schuhraum direkt neben den Kabinen, den Shankly zu Beginn seiner 15 Jahre als Liverpool-Cheftrainer ausräumen liess, um hier mit seinen Assistenten die Taktik zu besprechen. Dieser Raum war so etwas wie das Hirn, das Herz stand auf den Rängen (siehe dazu Kasten «5 Fakten zu Liverpool»).
Shankly hat den Stein ins Rollen gebracht, er hat Liverpool aufgerichtet. Er hat das Fan-Potenzial dieses Klubs erkannt. Auch im Unterhaus strömten die Anhänger zu Zehntausenden zum Spiel. Und Shankly hat diese Energien gebündelt, sich zu ihrem Anwalt gemacht. Die Klubführung drängte er, zu investieren. In neue, gute Spieler, in die Trainingsanlagen, ins Stadion. «Von allen Trainern, die ich seither erlebt habe, kommt ihm keiner so nahe wie Klopp jetzt», sagt Hooton.
Seit drei Jahren ist der Deutsche in Liverpool. Letzten Sommer begannen die Ausbau-Arbeiten in Kirkby. Für rund 65 Millionen Franken wird die Nachwuchs-Academy dort erweitert. Auch die Stars sollen künftig hier trainieren. Meldwood ist Geschichte. Für Neuverpflichtungen hat der Klub unter Klopp fast eine halbe Milliarde Franken ausgegeben. Zuletzt verstärkte man im Sommer die Defensive für rund 200 Millionen.
Die Ausgaben machen sich bezahlt. Bis zum Jahreswechsel haben die Reds in 20 Partien gerade einmal acht Treffer zugelassen. Dass sie dann schwächelten, hing auch mit Verletzungen in der Verteidigung zusammen. Trotzdem sagt Ian Rush (57), Rekordtorschütze Liverpools und TV-Experte, am Telefon: «Die Stadt wünscht sich nichts mehr als diesen Meistertitel. Der letzte liegt ja so weit zurück, dass ich damals sogar noch spielte. Aber seit letzten Sommer scheint es so, als hätte Klopp das Puzzle zusammen.»
Ein kleines Teil in diesem Puzzle ist Xherdan Shaqiri. Auch wenn er zuletzt schwächelte, werden sie ihn für sein Doppelpack gegen Hassgegner Manchester United für immer verehren. Das geht so weit, dass gewisse Fans in ihm den besten Transfer des Sommers sehen. Gegen Bournemouth letzten Samstag muss er verletzt passen. Und trotzdem geht er nicht vergessen.
Als Torschütze Mohamed Salah und Passgeber Roberto Firmino das 3:0 feiern, machen sie das in Shaqiris berühmter Jubelpose. Dahinter «The Kop» in Ekstase. Die wohl berühmteste Fantribüne der Welt. Hier stehen die «Kopites», die eingefleischten Fans.
Wenn «You’ll Never Walk Alone» angestimmt wird, dann steht das ganze Stadion. Wie zum Gebet in der Kirche. Allison Becker, der Torwart von Liverpool und der brasilianischen Nationalmannschaft, richtet Blick und Zeigefinger zum Himmel. Der Fussball als Ersatzreligion, die Spieler als heilsbringende Engel und Klopp der neue Messias. In Klopp they trust.
Wobei: Vor dem Bournemouth-Spiel kam Liverpool zweimal nicht über ein Unentschieden hinaus. Zweifel machten sich breit. Nicht nur bei James Pearce. Er ist der Star unter den Liverpool-Reportern. Über eine halbe Million Fans folgen ihm auf Twitter. Und weil der Klub gerne gute Verhältnisse pflegt zum Lokalblatt «Liverpool Echo» kriegt er immer mal wieder exklusive Termine. Mit den Spielern, mit Klopp, den Legenden. «Die Verunsicherung war spürbar, aber jetzt ist der Optimismus zurück. Wir holen diesen Titel», sagt er. Er versucht gar nicht, neutral zu sein. Zwar wuchs er im Süden Englands auf, aber als er Kind war, feierten die Reds grosse Erfolge. Er verfiel diesem Verein, wie so viele Engländer.
Also kam er fürs Studium hierher in den Norden. Doch er musste die Stadt Ende der 90er wieder verlassen. «Von meinen Studienkollegen blieb kein einziger in Liverpool. Es gab damals schlichtweg keine Jobs hier», sagt er.
Das war den dunklen 80er-Jahren geschuldet, der Thatcher-Regierung. Seit je ist die Arbeiterbewegung hier stark, die Stadt ist links. Die Ultraliberalen wollten Liverpool in den «geordneten Untergang» führen. Man stoppte zahlreiche Investitionen. Armut und Arbeitslosigkeit stiegen. Und dann kam Hillsborough, die Katastrophe, 96 Tote. Von der Polizei als Unfall dargestellt, weiss man heute längst, dass schwere Fehler der Behörden zur Tragödie führten.
«Wenn Englands Nationalmannschaft spielt, geht das vielen meiner Kollegen beim ‹Echo› am Allerwertesten vorbei. Sie fühlen sich als Liverpudlians (Menschen aus Liverpool; Anm. d. Red.), nicht als Engländer», sagt Pearce. London hat sie einst ausgestossen, geächtet, verdrängt. Und so passt es, dass die Beatles der Insel den Rücken kehren, mit dem Blick hinaus in die Welt.
Jetzt sind «The Fab Four» – die fabelhaften Vier, wie man die Beatles nannte – zurück. Seit der Ankunft von Shaqiri nennt man Liverpools Angriff (der bis dahin aus Sadio Mané, Mohamed Salah und Roberto Firmino bestand) so. Aber wichtiger als die Welt ist dieses Mal England. Sie wollen die Insel erobern. Die Welt kann warten.