Welcher Sieg war im vergangenen Winter mental schwieriger zu realisieren: Adelboden oder Olympia?
Marco Odermatt: Adelboden war schwieriger! Es war mein allergrösstes Ziel des Winters. Der Druck als Heimrennen mit all den optimistischen Fans und meinen aussichtsreichen Resultaten im Vorfeld schraubten die Erwartungen stark in die Höhe. Gleichzeitig hat es mir im Hinblick auf Olympia geholfen, diese mentale Aufgabe in Adelboden erfolgreich bewältigt zu haben.
Und welcher Erfolg bedeutet Ihnen persönlich mehr?
Im Voraus hätte ich klar Adelboden gesagt. Wenn ich an die Emotionen im Zieleinlauf zurückdenke, ebenfalls zum Zeitpunkt des Erfolgs. Aber mit der zeitlichen Distanz stelle ich heute fest: Der Olympiasieg ist doch das Grösste, was man als Sportler holen kann. Der Wert dieser Goldmedaille reicht über die eigene Sportart hinaus. Das realisiere ich auch, wenn ich mir all die Jahresrückblicke in den Medien anschaue. Ich hätte auch mit Silber bei Olympia eine Supersaison gehabt und doch wäre es nicht das Gleiche gewesen. Aber emotional bleibt Adelboden unübertroffen.
Was hat den Heimsieg in Adelboden so herausfordernd gemacht?
Letztlich alles, das ganze Drum und Dran. Ich war in Adelboden schon immer ein wenig nervöser. Im letzten Winter reiste ich erstmals als Topfavorit ins Berner Oberland. Alle haben diesen Sieg erwartet – die Öffentlichkeit, auch intern im Team und letztlich habe auch ich darauf gehofft. Zuvor war Corona und vor der Pandemie bin ich noch nicht um den Sieg mitgefahren. Ich hatte also dieses Gefühl vor der imposanten Zuschauerkulisse noch nie erlebt.
Reisen Sie nun mit einem anderen Gefühl ins Berner Oberland?
Ja, sehr! Ich werde viel ruhiger und lockerer sein. Klar möchte ich gerne noch ein zweites Mal gewinnen, aber ich muss nicht. Ich habe diesen Sieg und das macht das Ganze schon viel einfacher. Wie genau ich mich am Samstagmorgen unmittelbar vor dem Start fühlen werde, kann ich zwar erst erahnen. Aber ich werde die Sache zweifellos gelassener angehen.
Apropos Adelboden: Was macht es mit Ihnen, wenn Sie Silvester beinahe im T-Shirt begehen können und Sie beim Blick in Richtung Klewenalp vorwiegend grün sehen?
Es ist eine bittere Situation. Ich war über die Weihnachtszeit mehrere Tage zu Hause und habe in dieser Zeit praktisch nichts unternommen. Dies deshalb, weil ich gar nicht wusste, was ich hätte tun können. Für eine Skitour hatte es zu wenig Schnee und auch ein spontaner Trip für einen Winterspaziergang auf die Klewenalp war angesichts der Situation kein wirklich reizvoller Gedanke. Mich trifft der aktuelle Schneemangel in der Ausübung meines Berufs noch nicht direkt. Aber für die vielen Freizeitsportler, die ganze Skiindustrie und vor allem all die kleineren, nicht ganz so hoch gelegenen Skigebiete wie etwa die Klewenalp ist die Situation ein Desaster. In diesen zwei Wochen um die Festtage, in welchen traditionell ein wichtiger Teil des Jahresumsatzes generiert wird, blieben die Schneesportler fast gänzlich aus.
Sie haben vor der Saison punkto Ziele vorausblickend gesagt, «irgendwann geht es dann einfach nicht mehr besser». Dieser Moment scheint noch nicht gekommen zu sein?
Ich habe nach der vergangenen Saison erwartet, dass es nicht erneut besser gehen wird. Doch bis anhin war es tatsächlich nochmals eine Steigerung. Aber der Punkt wird definitiv kommen, wo das Maximum erreicht sein wird. Die Abfahrt in Bormio war beispielsweise das erste Rennen, bei dem ich resultatmässig im Vorjahr besser abschnitt. Trotzdem war dieser 4. Platz für mich alles andere als eine Enttäuschung. Es hat selbst an einem Tag, wo nicht alles zusammenpasste, für einen vierten Rang gereicht. Das empfinde ich als Erfolgserlebnis. Vor einem Jahr wäre ich an einem solchen Tag vielleicht auf Rang 15 gelandet.
Durch Ihre Erfolge wächst die Erwartungshaltung weiter. Odermatt nicht auf dem Podest erscheint für viele Aussenstehende bereits als Enttäuschung. Spüren Sie diesen Druck?
Jein! Ich realisiere die Erwartungshaltung, spüre deswegen aber keinen zusätzlichen Druck. Es entspricht ganz einfach der aktuellen sportlichen Realität, bei jedem Rennen von mir einen Podestrang zu erwarten. Dass ich letztlich aber bei 30 Starts nicht 30-mal auf das Podest fahren kann, ist genauso logisch.
Trotzdem: Wenn Sie nach einem ersten Lauf im Riesenslalom für einmal nur Neunter sind, liest man in den Onlinemedien «Odermatt enttäuschte». Ist das nicht doppelt despektierlich: Ihnen gegenüber und auch gegenüber der Konkurrenz?
Absolut. Aber ich denke, das ist vor allem Ausdruck der heutigen Medienwelt, wo vieles ins Extreme gedreht wird. Wenn etwas gut war, ist man euphorisch. Wenn etwas schlecht war, stellt man Dinge grundsätzlich infrage. Letztlich funktioniert unsere Welt heute auf diese Weise. Die Frage, wie respektvoll dies gegenüber den Betroffenen ist, stellt sich dabei tatsächlich.
Verschiebt sich mit Ihren Erfolgen auch die eigene Erwartungshaltung?
Ja, logisch. Auch ich rechne mir inzwischen praktisch bei jedem Start Chancen auf das Podest aus, wenn alle Faktoren wie Material, Energielevel oder Technik stimmen. Ich bin aber genug realistisch, dabei nicht zu vergessen, wie schwierig das ist. Das hat beispielsweise mein neunter Rang im ersten Lauf in Alta Badia nach einer durchaus soliden Fahrt gezeigt. Es braucht bei jedem Renntag 100 Prozent, sonst fahre auch ich nicht auf das Podest.
Wie weit unterscheidet sich Ihre Erwartungshaltung je nach Destination und Strecke – oder spielt inzwischen auch das keine Rolle mehr?
Doch, das spielt sicherlich noch eine Rolle. So bin ich etwa mit weniger hohen Erwartungen nach Gröden gereist als nach Bormio. Gleichzeitig ist das Coole an diesen Orten, dass sich dort die wenigen Gelegenheiten ergeben, mich überhaupt noch zu verbessern. Es sind auch die Orte, wo man einmal etwas ausprobieren kann, wie in Gröden mit der Materialabstimmung geschehen.
Es ist mental doch schöner, etwas zu gewinnen als etwas zu verlieren?
Ich weiss, was Sie ansprechen. Man muss sich das auch immer wieder selbst vor Augen führen. Gewinnen kann ich in jedem Rennen etwas. Ein Podestplatz ist jedes Mal ein Erfolg – auch ein dritter Rang an einem Ort, wo man im Jahr zuvor Zweiter oder Erster war.
In den vergangenen Wochen haben die Rücktritte zweier Giganten des alpinen Skisports für Schlagzeilen gesorgt. Sagt die Art und Weise mehr aus über diese beiden Sportler oder mehr über die Anforderungen der Speeddisziplinen?
Beides! Es sind aber zwei ganz verschiedene Fälle. Bei Beat Feuz ist dieser Schritt für mich zu 100 Prozent nachvollziehbar. Ich finde es sehr cool, wie er es gemacht hat. Kein Abschied beim Weltcup-Final in Andorra vor 20 Fans, sondern dort, wo er im Mittelpunkt steht. Beat hat auch das einmal mehr perfekt hingekriegt.
Und bei Matthias Mayer?
Das war eine ganz grosse Überraschung. Es gibt genug Spekulationen über die Gründe, aber dazu kann ich nichts sagen.
Feuz und Mayer haben ihren definitiven Entscheid beide während einer Besichtigung gefällt. Ein solches «Hangrutschen» scheint demnach mental nicht ohne zu sein?
Es zeigt, wie herausfordernd der Skisport ist. Risiko muss man in allen Disziplinen nehmen, aber gerade auf der Abfahrt sind die Konsequenzen aus dieser Entscheidung grösser. Das hat man bei Beat sehr gut gesehen. Obwohl er dieser absolute «Rennhund» geblieben ist: Wenn man innerlich nur ein oder zwei Prozent Risikobereitschaft zurücknimmt, dann fährt man nicht mehr ums Podest. Vielleicht wird dir so etwas auf der Besichtigung bewusst – wenn du merkst, welche Linie du instinktiv etwas genauer anschaust. Ist es die absolute Risikolinie? Durchaus möglich, dass dies ein Schlüsselmoment war.
Ist die Besichtigung der Moment, wo Sie entscheiden, wie viel Risiko Sie in einem Rennen eingehen wollen – oder ist das eher eine Frage des Instinkts während des Rennens?
Das passiert während des Rennens. Bei der Besichtigung schaut man sich an, wie man die verschiedenen Stellen ungefähr fahren möchte. Wie man es danach wirklich tut, ob man beispielsweise eine Hocke-Position noch zehn Meter länger hält, entscheidet sich alles instinktiv während der Fahrt. Ich denke auch nicht, dass man bereits am Start entscheidet, welches Risiko man nehmen will.
Dann ist der Grad des Risikos eine Frage des Gefühls?
Ja. So etwas kann man auch nicht wirklich planen. Es sind unmittelbare Faktoren: Welches Mindset habe ich, wenn ich im Starthaus abstosse? Welches Gefühl habe ich beim ersten Tor unter dem Ski? Ist dieses derart perfekt, dass ich ans Limit gehen kann oder gibt es Elemente, welche es verunmöglichen?
Sind es innere Konflikte, die letztlich entscheiden, ob diese ein, zwei Prozente zum maximalen Limit fehlen?
Nein, das denke ich nicht. Ich hatte dieses Gefühl in dieser Saison bisher zweimal: im Super-G von Beaver Creek und in der Abfahrt in Bormio. Man fühlt sich am Start eines Rennens nie gleich. Es gibt Rennen, wo man spürt, dass der Hunger gross ist und gefühlt alles passt. Es gibt aber auch Rennen, wo am Start dieses Gefühl weniger da ist, die Leistung im Ziel aber dennoch top ist. Dort gelingt es, unterwegs das Gefühl irgendwie zu überlisten. Und dann gab es bei mir ebendiese zwei Rennen, wo ich im Ziel merkte, dass ich nicht in den Flow gekommen bin.
Sie haben in den vergangenen Wochen ein Monsterprogramm absolviert. Man sagt, ein Erfolgsfaktor ist Ihre aussergewöhnliche Erholungsfähigkeit?
Ob sie aussergewöhnlich ist, bleibt schwierig zu beantworten. Ich weiss ja nicht, wie sich andere Fahrer nach einem Rennen oder am Tag danach fühlen. Es ist aber wahrscheinlich eine Voraussetzung, um überhaupt in mehreren Disziplinen um den Sieg mitfahren zu können. Und die Erholung hat auch sehr viel mit der allgemeinen Fitness zu tun. Wer im Konditionsbereich top ist, erholt sich bekanntlich auch schneller. Man kann also sagen, die Erholungsfähigkeit ist einer meiner Erfolgsfaktoren. Man kann aber auch schlicht sagen, sie ist das Produkt von harter Arbeit. Die verschiedenen Massnahmen zur Regeneration nach einem Rennen sind für sich nicht streng, aber es ist eben auch keine Freizeit. Sie konsequent umzusetzen, hat eben auch mit Pflichtbewusstsein zu tun.
Man kann im Sport inzwischen fast alles rund um Wettkampf und Training wissenschaftlich untersuchen. Ein Faktor für Ihren Erfolg ist jedoch auch der Instinkt. Wann vertrauen Sie auf ihn und wann auf wissenschaftliche Daten?
Es ist für mich logisch, dass mein Instinkt zuerst kommt. Es ist für mich wichtiger, ob ich mich gut fühle, als dass mir eine Uhr sagt, ich sei jetzt noch nicht vollständig erholt. Es gibt inzwischen viele Athleten, welche vor allem in der Vorbereitung im Sommer auf solche Uhren setzen, um die Trainingsplanung zu steuern. Wenn dir die Uhr sagt, du seist nicht ganz erholt, bin ich überzeugt, dass du dich entsprechend auch so fühlst.
Also setzen Sie weniger auf Wissenschaft?
Es geht heute nicht ohne Wissenschaft. Auch ich kann bei der Regeneration oder der Wahl der Trainingsmethoden stark davon profitieren. Diesbezüglich befinden wir uns aktuell in einer guten Zeit. Noch vor 20 Jahren lautete die Devise: mehr Trainingsumfang und mehr Gewicht im Kraftraum auflegen ist auf jeden Fall besser! Davon ist die Trainingslehre zum Glück weggekommen. Heute steht die Qualität des Trainings an erster Stelle.
Dank moderner GPS-Geräte kann man inzwischen ja auch im Training bei jedem Riesenslalom-Tor Einfahrts- und Ausfahrtsgeschwindigkeit oder Kurvenradien genaustens messen und analysieren. Wie weit setzen Sie auf solche Errungenschaften?
Wir sind im Team gar noch nicht so weit, dass diese Datenerhebungen in unseren Trainingsalltag einfliessen. Ich profitiere mehr von Daten der Leistungsdiagnostik. Eine Kurve eines Riesenslaloms habe ich hingegen noch nie analysiert, um herauszufinden, wo welche Kräfte wirken und wie ich anders fahren müsste, um theoretisch schneller zu sein.
Also keine GPS-Geräte im Training?
Die Ausnahme sind die Abfahrtstrainings, wo wir permanent den Speed messen. Wenn ich dann im Vergleich zu anderen in einem Abschnitt fünf Kilometer Geschwindigkeit verliere, gibt das für das Rennen Rückschlüsse auf die Linienwahl. Das kann helfen. Letztlich weiss man als Fahrer trotzdem nie zu hundert Prozent, wo genau der entscheidende Faktor zum Sieg lag.
Also noch kein Konflikt zwischen im Rennen instinktiv handeln oder aufgrund von wissenschaftlichen Daten?
Nein, einen solchen Konflikt spüre ich nicht. Dafür greifen wir schlicht noch auf zu wenig Daten zurück. Ich bin diesbezüglich aber offen. Wenn mir eine GPS-Messung entgegen meinem Instinkt sagt, dass eine Linienwahl schneller ist, dann vertraue ich darauf. Aber man muss es realistisch sehen: Viele Überraschungen lassen sich auf einer Abfahrtsstrecke nicht mehr finden. Da zeigt dir auch ein GPS-Signal nicht einfach eine Abkürzung, wo du eine halbe Sekunde Zeit gewinnst.
Was sagt Ihnen der Instinkt für die drei Rennen im Berner Oberland?
Ich habe es nicht in den eigenen Händen, aber ich hoffe doch, dass die Rennen stattfinden. Letztlich entscheidet aber in unserem Sport immer das Wetter, ob wir fahren können oder nicht.
Die Frage bezog sich weniger auf das Wetter als vielmehr auf Ihre Leistungen?
Was mein Instinkt sagt, weiss ich nicht. Aber die Erfahrungen aus dem vergangenen Jahr sagen mir, dass für mich in den drei Rennen alles möglich ist. Für einen Podestplatz oder gar einen Sieg muss gleichwohl von A bis Z alles passen. Ich freue mich auf jeden Fall sehr auf die bevorstehenden Klassiker.