Noah Dettwiler – ein Opfer des Systems?
Auf der Fahrt aus der Box zum Startplatz (Besichtigungsrunde) des Moto3-Rennens in Sepang rollt Noah Dettwiler relativ langsam auf der Ideallinie (also der schnellstmöglichen Linie). Jose Antonio Rueda (19) übersieht ihn und kracht mit voller Wucht ins Heck der Maschine des Schweizers, der aus dem Sattel fliegt und auf die Betonpiste knallt. Die zentrale Frage: Warum raste der spanische Weltmeister nahezu ungebremst in den langsam rollenden Kontrahenten? Hatte Noah Dettwiler ein technisches Problem?
Dieser Unfall wirft grundsätzliche Sicherheitsfragen auf. Heute wird für die Sicherheit der Fahrer beim Rennstreckenbau alles Menschenmögliche und Kosten werden nicht gescheut. Die Sturzräume sind so gut ausgebaut, dass die Fahrer nach einem Sturz nicht mehr in Strohballen, Reifenstapel oder Leitplanken knallen. Und dort, wo ein Aufprall noch möglich wäre, federn Luftkissen den Einschlag ab.
Doch trotz all dieser Sicherheitsvorkehrungen fährt der Tod immer noch mit. Was keine Technologie und kein Reglement verhindern kann: Zusammenstösse auf der Piste (wie jetzt im Fall von Noah Dettwiler) oder gestürzte Piloten, die von Konkurrenten überfahren werden wie im Falle des tödlich verunglückten Jason Dupasquier, dem so hoffnungsvollen Schweizer, der sein Leben Ende Mai 2021 im Training zum GP von Italien in Mugello verlor.
Er stürzte und die nachfolgenden Ayumu Sasaki und Jeremy Alcoba konnte nicht mehr ausweichen und überfuhren den 19-jährigen Schweizer, der am Anfang einer grossen Karriere stand. Das gleiche Schicksal erlitten Marco Simoncelli (24) im Rennen der Königsklasse beim GP von Malaysia 2022 und Dominique Aegerters Teamkollege Shoya Tomizawa 2010 im Moto2-Rennen in Misano.
Zum Thema wird nun ein Systemwechsel. Das Big Business Töff lebt inzwischen primär von der Klasse MotoGP. Einst waren die verschiedenen Klassen vom Reglement her gleichberechtigt. Alle hatten den gleichen Zeitrahmen für die Trainings, das Warm-up am Renntag und das Rennen. Inzwischen gibt es nicht mehr sechs (50 bzw. 80 ccm, 125 ccm, 250 ccm, 350 ccm, 500 ccm und Seitenwagen), sondern nur noch drei Kategorien (Moto 3, Moto2, MotoGP). Mehr noch: Das Programm des Renntages ist ganz auf die «Königsklasse» MotoGP zugeschnitten. Die Kategorien Moto3 und Moto2 werden immer mehr zu Rahmenveranstaltungen.
Anfänglich hatten alle drei Klassen am Morgen des Renntages ein Warm-up von 20 Minuten. Diese Zeit ist aus einem ganz bestimmten Grund eingeführt worden: Die Fahrer und die Techniker hatten so die Gelegenheit, die Maschinen auf ihre einwandfreie Funktionalität zu überprüfen. Denn nach dem Abschlusstraining (heute: Qualifying) arbeiten die Mechaniker noch einmal intensiv an den Maschinen.
Heute gibt es für die Klassen Moto3 und Moto2 gar kein Warm-up mehr und jenes für die MotoGP-Stars ist auf zehn Minuten verkürzt worden. Grund: Die gewonnene Zeit wird für eine Parade der MotoGP-Stars rund um den Kurs genutzt. Was der technischen Sicherheit (und damit der Sicherheit der Fahrer) diente, ist dem Kommerz geopfert worden.
Manche Fahrer nutzen nun wegen dieses Systemwechsels die Besichtigungsrunde für eine letzte Funktionskontrolle ihrer Höllenmaschinen. Einige gehen dabei ein hohes Risiko ein, um ein Gefühl für den Speed und die Abstimmung zu bekommen, andere machen bei geringerem Tempo Funktionstests – etwa wenn ein Bike nach einem Unfall am Vortag heftig demoliert wurde und nun erstmals wieder auf der Strecke ist. Die daraus resultierenden enormen Tempo-Unterschiede erhöhen das Risiko.
Die Fragen, auf die es wohl nie eine definitive Antwort geben wird, die aber im Interesse der Sicherheit gestellt werden müssen: Fuhr Noah Dettwiler so langsam, weil es ein technisches Problem bei seiner Maschine gab, das bei einem Warm-Up entdeckt worden wäre? Fuhr Jose Antonio Rueda auf dem Weg von der Box zum Startplatz bereits so schnell, weil er sicher sein wollte, das alles funktioniert? Wenn es um die Sicherheit in einem Sport geht, bei dem der Tod mitfährt, muss jede Frage gestellt werden.
