Die Welt lag Timothé Mumenthaler zu Füssen. So zumindest muss es sich angefühlt haben, vor einem Jahr in Rom. Als er auf der halben Bahnrunde alle abhängte. Und danach in die Kameras lächelte, die Goldmedaille um den Hals baumelnd.
In 20,28 Sekunden lief Mumenthaler die 200 Meter. Sekunden mit Wirkung. «Ich bin vom einen Tag auf den anderen in eine neue Dimension vorgestossen», so nennt er das selbst. Auf einmal interessierten sich Sponsoren für ihn, die Medien sowieso. Jeder wollte ein Interview. Wollte wissen, wer dieser 21-Jährige war. Sohn eines Schweizers und einer Senegalesin, aufgewachsen im Genfer Vorort Onex, der früh als herausragendes Talent im Sprint galt, bislang aber keine Erfolge in der Elite vorzuweisen hatte. Und jetzt, plötzlich, Europameister war. Von Null auf Hundert in 20 Sekunden, gewissermassen.
Raus aus der Anonymität, rein ins Scheinwerferlicht. Gut getan hat Mumenthaler diese abrupte Abfolge von Ereignissen nicht wirklich. Wo er in Rom noch über den Dingen schwebte, war er wenig später bei den Olympischen Spielen in Paris mehr Nervenbündel denn cooler Hund. Der Druck war gestiegen, die Erwartungshaltung eine andere geworden. Im Stade de France stand schliesslich nicht mehr Timothé, der Junge aus Genf am Start, sondern Timothé, der Europameister. Ziemlich viel für einen 21-Jährigen.
Mumenthaler scheiterte an den Ansprüchen, verpasste den Halbfinaleinzug. Er, dieser extrovertierte Mensch mit Hang zu leichtem Übermut, dem Trash-Talk und den ausladenden Gesten nicht abgeneigt, fühlte sich ganz klein. Er war nicht mehr sich selbst. «Ich war nur noch müde, hatte auf nichts wirklich Lust», sagt er heute.
Mumenthaler weiss inzwischen, was in den Tagen und Wochen nach dem EM-Gold mit ihm geschehen ist. Der Moment des grösstmöglichen Erfolgs hat ein Vakuum aufgerissen. Eines, das nicht die Möglichkeit zum Genuss bot, sondern ihn in tiefe Abgründe blicken liess. Freuen konnte sich Mumenthaler über den EM-Titel kaum. Stattdessen setzte der «Post-Achievement-Blues» ein, wie er das selbst nennt. Zweifel nagten an ihm: Bin ich wirklich so gut, oder war dieser Abend in Rom nur Zufall? Zuweilen fühlte er sich wie ein Hochstapler.
Dass in enger Taktung nach der EM gleich Olympia folgte, half nicht dabei, die Widersprüche und Unwirklichkeiten in seinem Kopf zu entwirren. Er musste liefern, konnte aber nicht.
Mumenthaler erzählt all das in offener Runde mit Journalisten. Er ist ein Jahr älter geworden, 22 nun. Und er hat entschieden, um seine mentalen Schwierigkeiten kein Geheimnis zu machen. Auch weil er den passenden Raum zur Selbstreflexion doch noch gefunden hat. Dass er die Hallen-Saison – auch wegen kleinerer Blessuren – vollständig ausliess, erwies sich hierbei als Segen.
Es bot ihm Gelegenheit, neben dem Körper vermehrt auch dem Geist die nötige Aufmerksamkeit zu widmen. «Die meisten Athleten trauen sich nicht, über solche Dinge öffentlich zu reden. Dabei weiss jeder, wie stark die Psyche Einfluss auf die eigene Leistung hat», sagt er. Er habe einen Weg gefunden zurück zu sich, «mit möglichst viel Frieden, Ruhe, Gelassenheit und Zärtlichkeit gegenüber mir selbst».
Auch den Wert von Pause und Erholung hat Mumenthaler schätzen gelernt. Von der Wichtigkeit der Ferien mit seinen Kumpels, «um ein wenig zu entspannen», spricht er. Vom anspruchsvollen Studium der Mikrotechnik an der EPFL in Lausanne, dessen Pensum er in diesem Jahr reduziert hat. Im Wissen darum, «dass ich dadurch weniger müde, weniger emotional und mental belastet bin».
Der Schritt soll helfen, den Fokus noch stärker auf den Spitzensport zu legen. Denn eines macht Mumenthaler eben auch klar: Der EM-Titel von 2024 soll nicht der Höhepunkt bleiben. Mumenthaler verfolgt hochtrabende Ziele, will den Landesrekord von Alex Wilson über 200 Meter (19,98) unterbieten und nebenher so etwas wie der Rächer im Dienste der Schweizer Leichtathletik sein, indem er die Marken von Doping-Sünder Wilson für immer aus den Bestenlisten streicht.
Ist das realistisch? Sein Trainer Kevin Widmer findet: Ja. «Ich traue ihm zu, dass er über 100 und 200 Meter in die Weltspitze vorstösst», sagte Widmer kürzlich gegenüber der NZZ. Mumenthaler sei fähig, «die 100 Meter unter 10 und die 200 Meter unter 20 Sekunden zu laufen.»
Aufhorchen lässt hierbei der Verweis auf die 100-Meter-Disziplin. Über diese Distanz war Mumenthaler in den letzten Jahren nie besonders in Erscheinung getreten. Nun aber schickt er sich an, sein Portfolio zu erweitern. «Seit meiner Kindheit interessiere ich mich dafür, so schnell wie möglich auf einer geraden Linie zu rennen. Der 100-Meter-Lauf ist die Disziplin meines Herzens», sagt er.
Eine Kostprobe seines Könnens zeigte Mumenthaler am Pfingstmontag beim Susanne Meier Memorial in Basel. Über 200 m gewann er in soliden 20,59 Sekunden. Am Donnerstag wird er in Oslo erstmals in dieser Saison in der Diamond League antreten. Vielleicht wird es sich auch in der norwegischen Hauptstadt wieder so anfühlen wie in Rom. So, als läge ihm für einen Augenblick die Welt zu Füssen.