Hand aufs Herz. Wer hätte dies Ramon Zenhäusern zugetraut? Diesem auf den kurzen Slalom-Ski ungelenk und unästhetisch wirkenden, zwei Meter langen Schlaks? Spitzenplätze im Weltcup? Niemals. Top-Klassierungen an einem Grossanlass? Schon gar nicht.
Die Gesichter des Schweizer Slalom-Teams, das waren primär Luca Aerni und Daniel Yule. Beide hatten sie in diesem Winter für die Highlights gesorgt, Aerni als Zweiter in Madonna di Campiglio, Yule als Dritter in Kitzbühel und in Schladming.
Aber Zenhäusern? Der bestätigte vorerst seinen Ruf als Fahrer mit durchschnittlichen Qualitäten. Noch vor gut zwei Monaten in Val d'Isère, im zweiten Weltcup-Slalom des Winters, hatte er sogar die Qualifikation für den zweiten Durchgang verpasst. Jener Tiefpunkt war aber auch Wendepunkt. Der Spätzünder startete im Rekordtempo durch.
«Von da weg ging es Schritt für Schritt voran», blickt Zenhäusern zurück. Drei Slaloms später hatte er die Selektionskriterien für die Olympischen Spiele erfüllt. In Wengen und in Kitzbühel klassierte er sich als Vierter und Sechster inmitten der Weltklasse, und Ende Januar schliesslich, kurz vor der Abreise nach Südkorea, verblüffte er mit seinem Sieg im Parallel-Event in Stockholm alle.
Alle? Nicht ganz. Für seine Trainer und Teamkollegen kam der Erfolg in Schwedens Hauptstadt ebenso wenig überraschend wie der Coup im Olympia-Slalom. Für Yule war es eine Frage der Zeit, bis Zenhäusern zuschlägt. «Seit drei Jahren ist er im Training schnell und fährt er eine Bestzeit nach der anderen. Jetzt vermag er diese Leistungen in den Rennen umzusetzen.»
Matteo Joris, der Verantwortliche der Slalom-Equipe der Männer bei Swiss-Ski, pflichtet Yule bei. «Ramon hat etwas länger gebraucht, um im Weltcup Fuss zu fassen. Aber seine Entwicklung ist noch nicht zu Ende.»
Stichwort Entwicklung. Wie war diese Steigerung im Verlauf dieses Winters möglich? Im Vorfeld des Olympia-Slaloms hatte Zenhäusern seine markanten Fortschritte mit vielen zusammengefügten Puzzle-Teilen begründet.
Stunden nach seinem grandiosen Auftritt in Yongpyong wurde er konkreter. Er wollte gar nicht mehr aufhören mit dem Aufzählen all jener, die zu seinem Aufstieg vom Mitläufer zum Gewinner einer Olympia-Medaille beigetragen haben. Er nannte alle Trainer beim Namen, seinen Servicemann, seinen Mentalcoach, mit dem er seit letztem Frühling zusammenarbeitet – und er hob im Besonderen seine Mentoren Didier Plaschy und Silvan Zurbriggen hervor.
Plaschy war sein Trainer zu Jugendzeiten. «Er hat neben meinem Vater am meisten an mich geglaubt.» Er habe vorausgesagt, dass er, Zenhäusern, im Alter von 26, 27 Jahren Rennen gewinnen werde. «Er hat sich getäuscht. Ich werde erst im Mai 26 Jahre alt», sagt Zenhäusern lachend.
Zurbriggen berät ihn vor allem in Materialfragen. Mit ihm tauscht er sich praktisch vor jedem Weltcup-Einsatz aus. «Heute habe ich vor dem zweiten Lauf mit Silvan noch Kontakt gehabt», erzählt Zenhäusern und schwenkt nochmals ab zu seinem Vater.
«Er hat am meisten in mich investiert. Er war auch mein Trainer im Klub», sagt der Filius über Vater Peter, der selber das Talent gehabt hätte, um ein guter Skirennfahrer zu werden, dessen Familie aber nicht über die nötigen finanziellen Mittel verfügt habe. Im vergangenen Jahr war auch Sportfanatiker Peter Zenhäusern in Korea, nicht in Süd-, sondern in Nordkorea. Im kommunistischen Land leistete er als Ausbildner von Skitrainern Entwicklungsarbeit.
Der Doppelmeter Ramon Zenhäusern fährt gegenwärtig noch doppelspurig. Abseits der Pisten widmet er sich seinem Wirtschafts-Fernstudium. Im Juni, so hofft er, wird er den Lehrgang mit dem Bachelor abschliessen. Als Thema für seine Prüfungsarbeit hat der «Sion 2026» gewählt. «Das verbindet Wirtschaft und Sport. Ein perfektes Gebiet für mich.»
Perfekt war auch die Vorbereitung auf den Saisonhöhepunkt. Begonnen hatte sie schon im vergangenen Frühjahr. Direkt nach dem Weltcup-Finale in Aspen in Colorado reisten die Schweizer Slalom-Fahrer nach Südkorea weiter, um sich während einer Woche in Trainings und zwei FIS-Slaloms mit den Gegebenheiten im Olympia-Gelände in Yongpyong vertraut zu machen.
Die grosse Zuversicht brach bei Zehnhäusern vorerst nicht aus. «Die Pistenverhältnisse sagten mir nicht von vornherein zu», erinnert er sich. «Da hatte ich noch nicht gedacht, dass dieser Hang etwas für mich sein könnte.»
Elf Monate später weiss Ramon Zenhäusern, dass er sich getäuscht hatte. Es war ja auch noch eine ganz andere Zeit. Damals, als er noch ein Mitläufer und nicht der Olympia-Zweite im Slalom war. (fox/sda)