«Das kann es nicht sein»: FIS-CEO Urs Lehmann wird in der Sicherheitsdebatte deutlich
Aus dem Swiss-Ski-Präsidenten wurde ein FIS-CEO. Den Amtswechsel hat Urs Lehmann Ende September vollzogen. In seiner neuen Rolle besuchte der Aargauer den Weltcup von St. Moritz. «Unglaubliche Bilder, ein toller Event, super Leistungen», sah Lehmann. Der 56-Jährige sprach aber auch über die weniger schönen Seiten des Skirennsports. Die schweren Stürze, die gravierenden Verletzungen. Wo steht die FIS aktuell in der Sicherheitsdebatte?
Lindsey Vonn fährt mit 41 Jahren und einer Teilprothese im Knie zum Abfahrtssieg. Wie klingt das für Sie?
Was in den ersten 24 Stunden seit ihrem Sieg abgegangen ist, sprengt alle Grenzen. Das sehen wir auch an unserer Onlinereichweite. Solche Geschichten brauchen wir, damit uns auch die Welt ausserhalb der Alpen wahrnimmt. In der Schweiz, in Österreich, in Italien und Frankreich verkaufst du den Skirennsport so oder so, weil wir das in den Genen haben. Wenn wir aber global sein wollen, benötigen wir solche Storys.
Offiziell sind Sie als FIS-CEO zur Neutralität verpflichtet. Dennoch die Frage: Was sagen Sie zu den gravierenden Ausfällen im Schweizer Team?
Es ist jedem klar, wo mein Herz steht. Doch das ist jetzt nicht mehr meine Rolle. Wenn ich aber sehe, wieviel Pech das Schweizer Team hat, tut das weh. Die Schweiz hat Siegfahrerinnen verloren. Kein Team der Welt kann das kompensieren. Es tut mir insbesondere für die Athletinnen leid. Aber die Schweiz ist und bleibt stark. Da braucht es jetzt Verständnis, auch von den Medien.
In jüngster Vergangenheit gab es viele schlimme Unfälle im Skirennsport. Wo steht die FIS aktuell in der Sicherheitsdebatte?
Das Thema Sicherheit, insbesondere im Speed, war immer zentral. Von aussen betrachtet hatte ich früher das Gefühl, dass sich das Risiko immer ein wenig schneller bewegt, als die Massnahmen, die getroffen wurden. Ein Restrisiko wird immer bleiben, überall, wo du mit mehr als 100 km/h runterfährst. Dessen sind sich die Athletinnen und Athleten, die am Start stehen, bewusst. Aber es ist klar: Der Fokus muss auf die Sicherheit gelegt werden, das muss ein Top-Thema sein.
Was unternimmt die FIS konkret?
Wir haben im Oktober ein sehr umfassendes Programm gestartet mit verschiedenen Säulen. Ein Beispiel: Heute ist der Airbag obligatorisch im Rennen. Wenn die Athleten nun aber beispielsweise in Südamerika trainieren, ist der Airbag nicht obligatorisch, da kann jeder machen, was er will. Davon müssen wir wegkommen. Alle müssen einverstanden sein, dass ein Airbag zur Grundausstattung gehört. Da muss ein Kulturwandel stattfinden. Als die FIS sagte, der Airbag werde obligatorisch, gab es in der Folgesaison 38 Ausnahmen, die ich überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Sie sehen: Die Umsetzung ist nicht ganz einfach.
Was macht es so schwierig?
Ich gebe nochmals ein Beispiel: Die grossen Teams fahren ja in der Vorsaison Qualifikationen, um zu eruieren, wer im Weltcup fahren darf. Nun ist der Airbag nicht das aerodynamischste Ding der Welt. Vielleicht verliere ich ein bis zwei Zehntelsekunden damit. Und wenn der Airbag nicht obligatorisch ist, dann ist der Anreiz gross, ihn nicht zu tragen.
Welche Hebel gibt es nebst der Ausrüstung?
Ein grosses Thema ist die Homologierung der Pisten, da gibt es zu viele unterschiedliche Standards auf der Welt. Ausserdem müssen wir bei jedem Verband ein Sicherheitsmodul in der Ausbildung haben. Damit ein Coach, wenn er einen Lauf steckt, immer im Blickwinkel hat, wo die gefährlichen Stellen sind. Das muss in der DNA des ganzen Systems sein. Wir haben nun Umfragen bei allen grossen Verbänden gemacht. Daraus werden wir im Mai ein Bündel von Massnahmen präsentieren. Am Schluss muss das immer noch von den Verbänden angenommen werden.
Was kann man von anderen Sportarten lernen? Etwa von der Formel 1?
Man arbeitet sehr wissenschaftlich in der Formel 1. Dort werden die besten Leute hinzugeholt, um einen Sicherheitssachverhalt zu bewerten. Und dann müssen nicht sämtliche Stakeholder dazu befragt werden. Wenn wir eine Änderung einführen wollen, machen wir im Frühling einen Vorschlag – und dann geht das durch sämtliche FIS-Komitees hindurch. Man hat mir gesagt, dieser Prozess könne bis zu zwei Jahren gehen. Das kann es doch nicht sein. Wenn wir die besten Leute an Bord haben und zu einem Schluss kommen, müssen wir trotzdem alle Verbände, die Partikularinteressen vertreten, befragen. Wir müssen also eine Lösung finden, um schnell und konsequent zu agieren, sonst hindert uns das in der Entwicklung. (aargauerzeitung.ch)
