Zwischen Faszination und Fangnetz – ist die Abfahrt noch zeitgemäss?
Geschwindigkeiten von weit über 100 km/h. Eine Piste aus Schnee und Eis, mit Schlägen, weiten Sprüngen.
Weltcupabfahrten sind eine gefährliche Angelegenheit – und sie fordern fast an jedem Wochenende ihre Opfer. In den letzten Jahren verletzten sich zahlreiche Stars schwer, in diesem Winter traf es das Schweizer Frauenteam besonders hart.
Für Lara Gut-Behrami ist die Saison nach einem Kreuzbandriss vorbei. Corinne Suter muss derzeit und für insgesamt etwa einen Monat pausieren. Und am Donnerstag stürzte mit Michelle Gisin eine dritte Schweizer Olympiasiegerin schwer, im Training in St. Moritz verletzte sie sich unter anderem am Halswirbel.
Die Lauberhorn-Abfahrt zieht wie sonst nur die Fussball-Nati
Der Rausch der Geschwindigkeit ist verlockend. Mit Vollgas einen Berg hinunterrasen, perfekte Kurven ziehen, die Ernte für monatelanges, hartes Trainings einfahren: Das muss ein sagenhaftes Gefühl sein. Wenn im Zielraum die 1 auf der Anzeigetafel leuchtet, jagen Glückshormone durch jede Faser des gestählten Körpers.
Auch für TV-Zuschauer gibt es wenig spektakuläreres als eine Abfahrt. Jene am Lauberhorn hat regelmässig Einschaltquoten, die sonst nur die Fussball-Nati erreicht. Keine Frage: die Königsdisziplin des Skisports fasziniert.
Die billige Ausrede
Der grosse österreichische Musiker Rainhard Fendrich hat diese Faszination des Publikums mit viel Zynismus so zusammengefasst: «Weltcup-Abfahrtsläufe machen eam a bisserl müd, weu er is abgebrüht. Wenn eam dabei irgendwas erregt, dann nur, wenn's einen ordentlich zerlegt. Ein Sturz bei 120 km/h, entlockt ihm ein erfreutes «Hoppala». Und liegt ein Körper regungslos im Schnee, schmeckt erst so richtig der Kaffee.»
Das Lied stammt aus den 1980er-Jahren, einer Zeit, in der schwere Stürze so häufig waren, dass das Rattern eines Rettungshelikopters fast schon zum Klangteppich des all samstäglichen TV-Vergnügens dazugehörte. Und ja, Abfahrerinnen und Abfahrer lebten schon immer mit der Gefahr – aber das ist eine viel zu billige Ausrede.
Archivbilder der Kitzbühel-Abfahrt
Die Hundertstel-Jagd forderte Tote. Schien- und Wadenbeine brachen, Knie gingen kaputt. Wer am Start einer Weltcupabfahrt steht, der akzeptiert die Tatsache, dass er womöglich nicht das Ziel sieht, sondern im Spital landet. Aber gerade weil diese Risiken seit jeher bekannt sind, stellt sich die Frage umso drängender: Wieso haben wir uns so sehr an sie gewöhnt? Warum akzeptieren wir sie noch immer als Teil des Spiels?
Die Knie als Schwachstelle
Seit Jahren grübeln Sportler, Trainer, Funktionäre und Materialhersteller darüber, wie sie den Skisport sicherer machen können. Airbags sind mittlerweile Pflicht, ebenso wie schnittfeste Unterwäsche. Die Entwicklung der Helme ist vorangeschritten. Fangnetze sind von besserer Qualität. Verglichen mit anderen Hochgeschwindigkeits-Sportarten fällt aber auf: Der Schutz ist minimal. Kein schier unzerstörbares Cockpit wie in der Formel 1, kein dick gepolstertes Rennkombi wie in der MotoGP. Ein Skidress ist ein hauchdünnes Stück Stoff.
Die grosse Schwachstelle bleiben die Knie. Je höher die Geschwindigkeit und je grösser die Fliehkräfte, desto stärker werden sie belastet. Kreuzbänder, Innenbänder, Aussenbänder, Menisken – in diesem Gelenk kann eine Menge kaputtgehen. Seit der Mensch aufrecht geht, hat sich das Knie evolutionär zwar angepasst. Es arbeitet aber nahe an seinen Belastungsgrenzen und ist besonders anfällig für Verschleiss und Verletzungen – nicht nur im Spitzensport, sondern auch im Alltag.
Langsamer verkauft sich schlechter
Eine zeitgemässe Abfahrt müsste womöglich anders aussehen. Tieferes Tempo, weniger blinde Übergänge, weniger Sprünge. Kurssetzungen, die technische Fähigkeiten betonen statt puren Highspeed. Material, das auf Kontrolle ausgelegt ist und nicht auf maximale Beschleunigung. Es gäbe zahlreiche Möglichkeiten, die Disziplin sicherer zu machen – doch alle hätten eines gemeinsam: Sie würden das Spektakel zähmen. Aber was langsamer ist, verkauft sich schlechter. Beim Slalom schalten am Lauberhorn weniger ein als bei der Abfahrt.
Es bleibt ein Widerspruch: Wir verlangen maximale Sicherheit, wollen aber gleichzeitig eine Show, die nur dank maximalem Risiko existiert. Vielleicht müssen wir uns deshalb eine ehrlichere Frage stellen: Nicht, ob die Abfahrt noch zeitgemäss ist – sondern ob wir es sind. Wenn wir mitfiebern, aber wegschauen, sobald die Konsequenzen im Fangnetz liegen, liegt das Problem nicht nur auf der Piste.
Und dann geschieht das, was wieder alles überstrahlt: Speed-Queen Lindsey Vonn, mittlerweile 41-jährig und im zweiten Winter ihres Comebacks, gewinnt nach sieben Jahren erstmals wieder ein Weltcuprennen – und wir alle lassen uns erneut von der Faszination packen.
The show must go on.
The show will go on.
