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Es waren einmal... So müsste diese Geschichte beginnen. Es waren einmal zwei olympische Waisenkinder. Ungeliebt und beim grossen olympischen Ball nur am Katzentisch geduldet. Nun sind sie lorbeerumkränzte Königinnen.
Martina Hingis und Timea Bacsinszky spielen dieses Doppel nur, weil sie von der olympischen Tennisfamilie verlassen worden sind. Martina Hingis hätte mit Roger Federer das Mix-Doppel und mit Belinda Bencic das Doppel spielen sollen. Roger Federer und Belinda Bencic haben auf Rio verzichtet. Und so muss Martina Hingis halt mit Timea Bacsinszky vorliebnehmen. Zwei Waisenkinder finden zueinander. Sie haben vorher nie zusammen gespielt. Und schreiben ein olympisches Märchen.
Es ist ein Tennis-Doppel wie Feuer und Wasser. Genie und Energie, Technik und Kraft verbinden sich zu einem neuen Element.
Die erste Runde hatten sie nur dank Martina Hingis' Klasse, Erfahrung, taktischer Schlauheit doch noch überstanden. Die Frage zu diesem Zeitpunkt, nicht boshaft, sondern realistisch: Gewinnt Martina Hingis TROTZ Timea Bacsinszky eine Medaille?
Der zweite Sieg korrigiert diese Einschätzung ein wenig. Die Frage lautet nun: Gewinnt Martina Hingis MIT Timea Bacsinszky eine Medaille? Und nach der dritten Runde und vor dem Halbfinal ist klar: Martina Hingis kann DANK Timea Bacsinszky eine Medaille holen.
Dieses Halbfinal-Drama gegen Andrea Hlavackova/Lucie Hradecka wird auf den ersten Blick durch einen «Kopftreffer» von Martina Hingis entschieden. Die Schweizerinnen gewinnen nach der Abwehr von zwei Matchbällen mit 5:7, 7:6 (7:3), 6:2.
Martina Hingis hatte beim Stand von 5:7, 4:5 zwei Matchbälle abgewehrt. Beim zweiten schlägt sie Andrea Hlavackova den Filzball volley ins Gesicht. Diese muss sich während rund zehn Minuten verarzten lassen. Es ist die spektakuläre Wende in einem Spiel, das bereits verloren schien.
Welch enorme Wirkung dieser unabsichtliche Treffer tatsächlich hatte, wird erst nach dem Spiel in vollem Umfang klar. Andrea Hlavackova verlässt nach dem Drama die Arena scheinbar unversehrt. Kein blaues Auge. Keine Schwellungen im Gesicht.
War alles halb so schlimm? Ist sie am Ende gar eine Drama-Queen? Nein. Es war wirklich ein Drama. Sie erzählt: «Ich bin genau auf dem linken Auge getroffen worden. Nicht neben dem Auge. Ich habe nichts mehr gesehen und bangte um mein Augenlicht.»
Erst nach zehn Minuten sei das Sehvermögen zurückgekehrt. Aber nicht ganz. «Bis zum Ende des zweiten Satzes habe ich die Bälle doppelt gesehen. Es ist schwierig, ein Doppel zu spielen, wenn ich die Bälle doppelt sehe…»
Andrea Hlavackova machte Martina Hingis keinen Vorwurf und sie suchte auch nicht nach Ausreden. «Das war einfach Schicksal, es stand wohl in den Sternen geschrieben, dass es so kommen muss. Martina und Timea waren letztlich besser. Sie haben sich immer besser auf unser Spiel eingestellt und haben immer aggressiver gespielt.»
Mag sein, dass erst Martinas «Tennis-Tellgeschoss» in diesem fast dreistündigen Drama (2:42 Stunden) den Weg in den Final geöffnet hat. Aber eine noch entscheidendere Rolle spielte Timea Bacsinszkys Energie.
Erst ab dem dritten Satz entfaltet die Mischung aus Genie und Energie, Technik und Kraft die volle Wirkung – nach der Abwehr der zwei Matchbälle steht der Sieg nie in Gefahr und im dritten Satz spielen die beiden Schweizerinnen so stark wie noch nie in diesem Turnier.
Martina Hingis hatte im zweiten Satz in ihrer Körpersprache leise Zeichen der Resignation verraten. Auf der Tribune kamen zwei hoch angesehene Experten, deren Namen mir soeben entfallen sind, zu einem eindeutigen Urteil: «Es ist vorbei.»
Aber Timea Bacsinszky rettet die Situation. Sie strahlt unverdrossen Energie, Mut und Zuversicht aus. Sie tigert über den Platz, steht nie still, muntert ihre Partnerin auf und tatsächlich wird sie hinterher verraten: «Ich habe Martina gesagt, dass ich einfach nicht aufgeben werde, dass ich um Gold spielen will, dass ich dafür wenn nötig einen Marathon laufen und bis nach Mitternacht spielen werde, um dieses Ziel zu erreichen.»
Ohne die Energie ihrer Partnerin wäre Martina Hingis gar nicht mehr zum «Tennis-Tellschuss» gekommen. So wie Martina Hingis mit ihrer Klasse, Schlauheit und Erfahrung den Sieg gerettet hatte, so ist es nun Timea Bacsinszky, die sich revanchiert. Und hinterher wird Martina Hingis das aggressive Spiel und die Energie ihrer Partnerin ausdrücklich loben.
Timea Bacsinszky fehlt die göttliche Leichtigkeit des Spiels, die bei Martina Hingis immer wieder aufblitzt und erahnen lässt, warum sie einmal die beste Spielerin der Welt war. Timea Bacsinszky wirkt eher ungelenk («Rumpeltennis») und es scheint, als brauche sie eine gewisse Zeit, um in Hitze zu geraten, das Feuer der Leidenschaft zu entfachten, Betriebstemperatur und Kampfgeist zu finden. Im Einzel ist sie bereits in der ersten Runde kläglich ausgeschieden, weil sie diese Betriebstemperatur nie erreicht hatte. Die wahre Timea Bacsinszky haben wir erst jetzt im Halbfinal an der Seite von Martina Hingis gesehen.
Tennistechnisch ist sie ein Biest. Timea Bacsinszky und die mit göttlichem Talent gesegnete Martina Hingis – es ist die Geschichte von der Schönen und dem Biest. Übertragen aufs Tennis.
Im Final warten am Sonntag im Spiel um Gold und Silber, die Russinen Jekaterina Makarowa/Jelena Wesnina.