Am 8. Juli 2004 windet es im Norden Frankreichs heftig. Es giesst an diesem Donnerstag aus Strömen und es ist kalt. Doch ein 25 Jahre alter Velorennfahrer sorgt dafür, dass es seinen französischen Landsleuten warm ums Herz wird. Thomas Voeckler nutzt die Gunst der Stunde und zieht Lance Armstrong, dem das aus taktischen Gründen ganz recht ist, das Leadertrikot der Tour de France aus.
Der 1,74 m grosse Profi erobert die Herzen der Franzosen im Sturm. Er weiss, dass er nicht das Zeug dazu hat, die dreiwöchige Rundfahrt zu gewinnen. Aber Voeckler nimmt sich vor, seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Zehn Tage lang verteidigt er das Maillot Jaune – der grosse Armstrong soll gar ein bisschen nervös geworden sein – und er wird für seinen heroischen Kampf gegen dessen Verlust gefeiert.
In diesem Juli wird ein Star geboren. «Mein Leben ist unterteilt in eine Zeit vor 2004 und in eine nachher», sagt Voeckler heute. «Diese Tour de France hat mein Leben verändert. Nicht bloss meine Karriere, nein, mein ganzes Leben.»
Thomas Voeckler wird fast über Nacht zum «Chou-Chou», zum Liebling der Massen. Er sei nicht darauf vorbereitet gewesen, sagt er rückblickend, «eben war ich noch ein Niemand und nun so populär. Das war wirklich nicht einfach.»
Keiner leidet auf dem Velo schöner als Voeckler, dessen Gesicht oft zur Fratze wird. Dessen Zunge häufig so weit aus dem Mund ragt, dass sie sich beinahe in den Speichen des Vorderrads verfängt. «Wenn er verzweifelt auf dem Rad hin und her gondelt, so scheint es, er sei der Erfinder des Leidens», beschrieb es einst die NZZ. Und das Magazin Rouleur bezeichnete ihn treffend als «pedalende Emoji-Galerie». Angreifen, es immer wieder versuchen, dabei oft scheitern, aber manchmal eben auch durchkommen – Voeckler ist ein wenig ein «Stan Wawrinka auf zwei Rädern».
Voeckler gibt zu, dass er sich manchmal auch absichtlich verstellt, um leidender zu wirken, als er in Tat und Wahrheit ist. Die Fluchtkollegen glauben lassen, mit den Kräften am Ende zu sein, um dann zuzuschlagen – Voeckler ist ein Fuchs. «Ich habe auch schon so getan, als würde ich mit meinem sportlichen Leiter funken und ihn angeschrien, dass er ein Idiot sei, weil er mich nicht attackieren lasse», erzählt er im Interview freimütig. «Dabei habe ich den Mikrofon-Knopf gar nicht gedrückt, ich wollte bloss die Gegner verwirren.»
Geboren wird Voeckler im Elsass. Noch als er ein Kind ist, wandert die Familie nach Martinique aus, weil der Vater leidenschaftlich gern segelt. Als er jedoch 1992 versucht, den Atlantik in einem Einhandboot zu überqueren, kehrt er nicht von diesem Törn zurück. Da ist Thomas 13 Jahre alt, sein Vater wird nie gefunden. Vier Jahre später zieht er alleine zurück nach Frankreich, in die Vendée im Westen des Landes. Er will Veloprofi werden und auf Martinique sind die Möglichkeiten dafür sehr begrenzt. Diese Geschichte macht ihn nebst der offensiven Fahrweise zusätzlich populär. Den «kleinen Verlobten Frankreichs» nannte ihn einst die Sportzeitung «L'Equipe».
In der Vendée trainiert Thomas Voeckler fleissig und bei Nachwuchsrennen ist er so erfolgreich, dass ihm der Ex-Profi Jean-René Bernaudeau einen Platz in seinem Team gibt. Dieses wird in den folgenden Jahren zwar mehrmals den Namen ändern, doch Voeckler bleibt ihm stets treu. Mehr als einmal schlägt er lukrative Angebote anderer Teams aus.
2010 liegt der Vertrag von Cofidis bereits unterschriftsreif vor ihm. Bernaudeau hat keinen Sponsor gefunden, es ist bereits Oktober, die Fahrer müssen wissen, wie es in der kommenden Saison weitergeht. Ob es für sie noch Platz hat im Profifeld. Voeckler sagt zu den Cofidis-Vertretern, er wolle noch bis am Abend warten mit seiner Zusage, Bernaudeau habe noch einen letzten Termin. Am frühen Nachmittag ruft Europcar bei Voeckler an und verspricht: Wir steigen ein, wenn du dabei bist. Thomas Voeckler entscheidet sich gegen das doppelte Gehalt bei Cofidis und für das Weiterbestehen seiner Equipe. So können auch viele Teamkollegen weiterhin Radprofi bleiben.
«Ich will nicht, dass es heisst, das Team habe nur wegen mir überlebt», spielt Voeckler seine Rolle gegenüber Cyclingnews herunter. «Ein Team ist eben genau das: ein Team. Ich wartete zu, damit das Team eine Chance hatte, weiter zu bestehen. Ich konnte mir das leisten, denn ich hätte auch im andern Fall weiter einen Job gehabt.»
Die Gelegenheit zum Dank bietet sich den Kollegen bei der nächsten Tour de France. Auf der 9. Etappe der Austragung 2011 erobert Thomas Voeckler das Leadertrikot. Und dieses Mal ist er nicht nur ein Stellvertreter von Lance Armstrongs Gnaden. Dieses Mal ist er der verdiente Gesamtführende.
Und wie schon sieben Jahre zuvor setzt Voeckler alles daran, das Maillot Jaune so lange wie möglich zu tragen. «Ich hatte den Eindruck, dass dies meine grosse Chance sein könnte, im Gesamtklassement richtig gut abschneiden zu können», erinnert er sich. «Ich sah mich nie als Sieger, aber ich wollte auch nicht ein Maillot-Jaune-Träger sein, der dann nur als 50. in Paris ankommt.»
Tag für Tag schafft Voeckler ein kleines Wunder nach dem nächsten. Bis drei Tage vor dem Ende bleibt er Leader. Doch hinauf zur Alpe d'Huez verliert er das Trikot. Und das Podest verpasst er am Ende als Vierter um weniger als eine Minute.
«Für mich passt das Abschneiden an der Tour 2012 aber besser zu mir», sagt Voeckler. Da gewinnt er zwei Etappen und er wird Bergkönig. «Dieses Trikot zu gewinnen bedeutet, dass man oft in Fluchtgruppen sein und kämpfen muss. Es benötigt ‹panache› (Mut).»
Voecklers Fahrweise stösst im Peloton nicht nur auf Gegenliebe. Ihm wird ein Hang zur Selbstinszenierung vorgeworfen, auch Rücksichtslosigkeit. «Neun von zehn Fahrern mögen mich nicht», sagte Voeckler einst der «L'Equipe». Dass er 2004 praktisch aus dem Nichts ein gefeierter Star wurde, habe viele Berufskollegen eifersüchtig gemacht. «Die Medien haben mich viel besser dargestellt, als ich es aufgrund meiner Leistungen verdient gehabt hätte.»
Diese Popularität macht Voeckler auf der Strasse bisweilen zu einem Verlierer. Er habe wegen des Neids viele Rennen verloren, sagt er. Hinten hätten die Gegner, obwohl völlig ambitionslos, zusammengespannt, um ihn einzuholen. Bloss, weil er vorne war, der unbeliebte Voeckler mit seinem wackelnden Kopf und den Mätzchen.
Vier Etappensiege und zwanzig Tage im Maillot Jaune weist Thomas Voecklers Palmarès auf. Dazu kommen zwei französische Meistertitel. Ob bei seinem Abschiedsrennen weitere Erfolge hinzukommen? Auf den Champs-Elysées will der 38-Jährige in drei Woche seine Laufbahn beenden, sofern er auch bei seiner 15. Teilnahme in Folge das Ziel erreicht.
«Ich habe an der Tour schon alles erlebt, ich habe keine sportlichen Ziele mehr und viele unvergessliche Erinnerungen», kündigt Voeckler an. Er werde die jungen Teamkollegen unterstützen und natürlich werde er versuchen, es auch bei der Dernière in die eine oder andere Fluchtgruppe zu schaffen und zu reüssieren.
Und wenn er es nach Paris schafft, ist die Prognose nicht gewagt, dass ihm das Feld auf dem Rundkurs der Schlussetappe eine Ehrenrunde gewährt, ehe es ihn einholt und den Sieger im Massensprint kürt. Es sei denn, Thomas Voeckler hat ein allerletztes Ass im Ärmel und kann allen anderen ein Schnippchen schlagen. Dass seine Grimassen manchmal nur aufgesetzt sind, hat sich zu seinem Leidwesen jedoch längst herumgesprochen.