Die Maglia Rosa des Giro d'Italia gehört zu den bekanntesten Radtrikots der Welt. Rosa zeichnet den Gesamtführenden der Italien-Rundfahrt aus. Daneben gibt es mehrere andere Spezialtrikots: Violett ist jenes für den besten Sprinter, blau dasjenige des besten Bergfahrers.
Der beste Abfahrer des Giro d'Italia wurde dagegen noch nie ausgezeichnet. Bis jetzt. Denn für die 100. Austragung der Rundfahrt, die am Freitag auf Sardinien beginnt, haben sich die Organisatoren entschieden, das zu ändern. Zwar gibt es kein Trikot, das den besten Abfahrer auszeichnet. Aber es gibt Prämien für denjenigen, der eine von zehn bestimmten Abfahrten am schnellsten bewältigt. Und nach drei Wochen, wenn der Giro in Mailand zu Ende geht, erhält der Fahrer, der auf diesen Abfahrten am meisten Punkte gesammelt hat, 5000 Euro (Details zu den Prämien hier im Giro-Reglement).
Die Neuerung kommt nicht gut an. Der Holländer Wout Poels vom Team Sky fragt die Giro-Organisatoren, ob es sich um einen Scherz handle: «Was ist mit der Sicherheit?» Seine und die Bedenken vieler anderer Profis und Beobachter sind nachvollziehbar. Denn Velorennen sind gefährlich. Es braucht noch nicht mal eine halsbrecherische Abfahrt, schon Stürze auf ganz normalen Flachetappen können fatale Folgen haben. 2011 verunfallte Mauricio Soler an der Tour de Suisse in Sirnach TG so schwer, dass der Kolumbianer ins künstliche Koma versetzt werden musste. Er konnte seine Karriere nicht mehr fortsetzen.
Das Unglück ereignete sich nur wenige Wochen nach dem tödlichen Sturz von Wouter Weylandt. Der Belgier war beim Giro d'Italia in einer Abfahrt zu Fall gekommen. Weylandt hinterliess eine schwangere Freundin. Tochter Alizée lernte ihren Vater nie kennen. Erst vor einigen Tagen, am Freitag, erlag der junge US-Profi Chad Young den Verletzungen, die er beim Sturz in einer Abfahrt an der Tour of the Gila in New Mexico erlitten hatte.
Dass Sturzfolgen auf einer Abfahrt gravierend sein können, liegt am höheren Tempo. Den Fahrer schützt bei 100 km/h nur ein Helm. Mehr nicht. 23 Millimeter schmal sind die Pneus, auf denen die Sportler zu Tale rasen. Manchmal fahren sie auf Passstrassen ohne Leitplanken und durchaus mit der Möglichkeit, hinter einer Kurve auf Kühe auf der Fahrbahn zu treffen. Regen kann hinzu kommen oder ein technisches Problem am Velo. Und das sind erst äussere Einflüsse, die nichts mit der möglichen Erschöpfung eines Fahrers zu tun haben und von der Gefahr, die davon ausgeht.
Jeder Fahrer weiss um die Gefahren, die auf einer Abfahrt lauern. Jeder hat für sich entschieden, damit zu leben.
Es ist ohnehin das Ziel jedes Fahrers, eine Abfahrt so schnell wie möglich zu bewältigen. Sie gehört schliesslich wie flache Abschnitte und Anstiege zum Kurs. Wer die Fähigkeiten besitzt, schnell einen Berg hinunter zu kommen, der wird dafür belohnt. Wer umgekehrt weiss, dass er auf diesem Terrain nicht zu den Besten gehört, der versucht, dieses Manko anderweitig zu kompensieren: Vorher eine Lücke schaffen oder sie nachher in der Ebene wieder schliessen.
Aber müssen die schnellen Abfahrer wirklich mit Geldprämien dazu verleitet werden, noch mehr zu riskieren als ohnehin? Dass sie im Zweifelsfall noch einen Meter später bremsen? Es werde mit Sicherheit Fahrer geben, die dazu bereit sind, meint der holländische Trek-Profi Koen de Kort. Für ihn ist klar: «Diese Wertung ist dumm und gefährlich, denn man muss auf den Abfahrten überholen und dazu vielleicht den Konkurrenten den Weg abschneiden.» Dadurch würden die Risikobereiten nicht nur sich selber, sondern auch andere gefährden.
Ein anderer Routinier, der Deutsche Marcus Burghardt, erinnert an Weylandts Todessturz: «Soll das wieder passieren? Nein!» Und der Amerikaner Joe Dombrowski schlägt zynisch eine Auszeichnung für den spektakulärsten Crash vor.
Fans lechzen nach Helden. Wagemutige Abfahrer eignen sich bestens dazu, sie waren immer schon populär. Und da Popularität neben Siegen die zweite harte Währung eines Sportlers ist, kann eins und eins zusammengezählt werden: Es wird Fahrer geben, die diesen Weg als einen zum Ruhm hin sehen.
Allerdings wird sich wohl erst mit der Zeit herauskristallisieren, wer das Zeug zum «Cuche auf Rädern» hat. Denn während Bergpreispunkte jeweils an die ersten oben vergeben werden, gibt es die Abfahrtspunkte für die Zeitschnellsten dieses Abschnitts. Das können auch längst abgehängte Fahrer sein, solche die gar nie im TV gezeigt werden, bis sie an der Siegerehrung vom Podest winken dürfen. Es gibt deshalb auch Stimmen, die sagen, dass sich am Rennen nicht viel ändere durch die neue Wertung. Schliesslich wird auch ohne Prämie schon sehr oft Kopf und Kragen riskiert, sei es, weil es um einen Etappensieg geht oder darum, den Anschluss an die Konkurrenz nicht zu verlieren.