Das Regenbogentrikot ist ein höchst begehrtes Kleidungsstück. Wer Rad-Weltmeister wird, darf es ein Jahr lang in jedem Rennen tragen. Heute geht es in und um Zürich zur Sache.
Um 10.30 Uhr fällt in Winterthur beim Sulzer-Hochhaus der Startschuss. Die ersten 4,5 Kilometer durch die Stadt absolviert das Feld gemeinsam in mässigem Tempo, der «scharfe» Rennstart erfolgt in Oberwinterthur.
Wenig später werden sich erste Fahrer absetzen. Es wird wohl etwa ein halbes Dutzend sein, mit Athleten, die letztlich keine Chance auf eine Medaille haben. Fahrer aus Ländern wie Mexiko, Rumänien, Uruguay oder der Mongolei wollen sich in Szene setzen. Dazu ein, zwei aus einem mittelgrossen Team, vielleicht ein Ire oder ein Tscheche.
Und die Schweizer? Ihr Ziel ist es, ebenfalls in der Fluchtgruppe vertreten zu sein. Denn so ist die Schweizer Equipe im Feld nicht zur Nachführarbeit verpflichtet und kann versuchen, Kraft zu sparen.
Daher ist es gut möglich, dass es die erste Fluchtgruppe ohne Vertreter einer grossen Nation zurück nach Winterthur schafft, dann aber auf dem Weg via Kyburg und Greifensee zum City Circuit südöstlich der Stadt Zürich von anderen ein- und überholt wird.
Auch ein Kanadier könnte dort dabei sein, weil es aus einem weiteren Grund ein Vorteil ist, einen Fahrer vorne zu haben. Dieser kann dann womöglich, wenn die Favoriten aufschliessen, noch eine Zeit lang Helferdienste verrichten. Die zahlenmässig unterlegenen Ahornblätter setzen alles auf die Karte Michael Woods.
Zu viert ist Kanada am Start, die Schweizer sind zu sechst, die Topnationen dürfen acht Athleten an die Startlinie schicken. Das erklärt die unterschiedlichen Herangehensweisen. Österreich, das auf Felix Gall und Felix Grossschartner hofft, ist ebenfalls mit sechs Fahrern dabei und könnte auch eines der Teams sein, das eine Relaisstation (schönen Gruss an Jean-Claude Leclercq!) zu platzieren versucht.
Zurück zu den Schweizern. Der Tag ist lang, die Eckdaten des WM-Rennens sind furchteinflössend. 273 km mit knapp 4500 Höhenmetern stehen auf dem Programm. Das Ziel des Schweizer Teams ist es, eine aktive Rolle zu spielen an der Heim-WM, an der es drei potenzielle Medaillenkandidaten in seinen Reihen hat.
Der Captain ist Marc Hirschi. Er soll, so lange es geht, Körner sparen, weil er mit seiner Explosivität am ehesten mithalten kann, wenn der Slowene Tadej Pogacar und der Belgier Remco Evenepoel, die Topfavoriten, attackieren. Oder gleich selber antreten, wenn er sich gut fühlt, und die beiden aus der Reserve locken.
Mauro Schmid und Stefan Küng sind die beiden anderen Schweizer Lose in der Medaillen-Tombola. Sie müssten es wohl eher mit einer längeren Flucht versuchen. So dass sie schon vorne sind, wenn die grössten Kaliber dort auftauchen. Und dann dran bleiben, eine Rivalität ausnutzen oder vielleicht gar von einer nummerischen Überzahl profitieren. Träumen ist erlaubt.
Spulen wir in unserem Szenario etwas nach vorne. Sieben Mal ist der City Circuit zu absolvieren, wir gehen davon aus, dass sich ein Schweizer in einer acht bis zehn Mann starken Spitzengruppe befindet.
In der drittletzten Runde verlieren vorne erste Fahrer den Anschluss, während hinten unter der Regie der Belgier das Tempo so hoch wird, dass schon viele den Anschluss verlieren und das Feld nur noch aus 40, 50 Mann besteht.
In der Schmalzgrueb ob Küsnacht versucht Olympiasieger Evenepoel, sich im Feld abzusetzen. Der Belgier sprengt das Peloton, aber die Aspiranten auf den WM-Titel sind alle noch bei ihm, auch Hirschi und Schmid. Gemeinsam rückt diese Gruppe von etwa einem Dutzend Fahrer den Ausreissern näher. In der vorletzten Runde, beim zweitletzten Anstieg auf der steilen Zürichbergstrasse, ist es um diese geschehen.
Nun, knapp 50 Kilometer vor dem Ziel, beginnt die Endausscheidung. Pogacar ist mit Landsmann Primoz Roglic vorne, neben Evenepoel haben die Belgier auch noch Jasper Stuyven und Maxim van Gils dabei. Den Australier Michael Matthews sehen wir wohl ebenso wie Woods und den Dänen Mads Pedersen, dazu einen Franzosen (David Gaudu, Valentin Madouas oder doch Julian Alaphilippe?) und Matteo Jorgenson aus den USA sowie den Spanier Enric Mas.
Evenepoels Kollegen halten das Tempo hoch, so dass es zunächst keine weiteren Attacken gibt. Der eine oder andere kann nicht mehr mithalten, die Spitzengruppe wird kleiner.
In der letzten Runde versucht ein Favorit der zweiten Reihe, sagen wir: Jorgenson, am Zürichberg davonzusprinten. Pogacar und Evenepoel setzen ihm hinterher, nach kurzer Zeit kann Hirschi aufschliessen. Das Quartett fährt hinauf nach Witikon und weiter nach Zumikon, bis noch einmal die Schmalzgrueb zum Scharfrichter wird.
Kurz und knackig ist die Steigung, und tatsächlich gelingt es einem Fahrer, sich hier abzusetzen. Er wird bis ins Ziel nicht mehr eingeholt und darf sich auf dem Sechseläutenplatz ins Regenbogentrikot einkleiden lassen.
Und der strahlende Sieger heisst …