Nach dem ersten Slalomlauf in Chamonix ist Daniel Yule hässig, nicht einfach ein bisschen, nein: so richtig. Er leistet sich ausgerechnet vor einem Flachstück einen schweren Patzer. Steht danach lange, lange Zeit ganz am Ende des Klassements. Und verabschiedet sich gedanklich zwischendurch schon ins Hotel.
Aber irgendwie rutscht der Walliser dann doch noch in den zweiten Lauf, als 30. tut er das. Nur ein einziger Fahrer hätte noch schneller sein müssen, dann wäre Yule raus gewesen.
Aber er ist an diesem Tag nicht raus, er schreibt Ski-Geschichte, weil er im zweiten Lauf 29 Plätze gutmacht. Von 30 auf 1, das hat es in der langen Geschichte des Ski-Weltcups noch nie gegeben. Den bisherigen Rekord hat Lucas Braathen gehalten, der junge Norweger. 2022 hatte er in Wengen den Slalom gewonnen – nach Rang 29 im ersten Durchgang.
Von 30 auf 1, und das ausgerechnet in Chamonix, bei diesem Weltcup-Slalom, der ganz in der Nähe von Yules Wohnort La Fouly stattfindet, wobei: ein paar mächtige Berggipfel liegen da schon noch dazwischen. Das alles sei unglaublich und schwierig zu verstehen, sagt Yule nach dem Rennen. Der 30-Jährige freut sich, natürlich tut er das. Aber er ist auch reflektiert genug, um schon ein paar Minuten nach seinem Triumph zu betonen, dass er an diesem Tag in Frankreich auch «richtig viel Glück» hatte.
«Manchmal», sagt er, «sind die Hundertstel auf meiner Seite, manchmal nicht.» An diesem Tag sind sie es. Fünf Hundertstel liegt Yule nach dem ersten Lauf vor Fabian Ax Swartz, einem blutjungen Schweden, der mit Startnummer 58 ins Rennen geht – und den Schweizer beinahe noch abfängt.
Als Yule dann in den zweiten Lauf startet, breitet sich vor ihm eine völlig unbefleckte Piste aus. Keine Rillen, keine Schläge. Nur ein Teppich, und auf dem tobt sich der Walliser genüsslich aus. Als er gewusst habe, dass es für ihn noch einen zweiten Lauf gebe, sei «die Energie in ihm hochgekommen». Er habe eine zweite Chance bekommen – und sie unbedingt nutzen wollen, sagt Yule nach dem Rennen.
Schon bald zeigt sich, dass dem Walliser das gelungen ist. Ein Fahrer nach dem anderen beisst sich die Zähne an seiner Zeit aus, grosse Namen wie Linus Strasser gehören dazu. Und mit jeder Fahrt graben sich die Spuren tiefer in die Piste von Chamonix. Die Fahrer setzen jetzt nicht mehr ihre eigene Linie, wie Yule das noch getan hatte. Sondern kämpfen sich den Berg hinunter. Als Loïc Meillard, der beste Schweizer im ersten Lauf, oben am Start steht, ist Yule immer noch Erster. Im Ziel zeigt Meillard auf Yule, und der schüttelt die Hand. Soll heissen: Das war ganz schön knapp.
16 Hundertstel fehlen Meillard auf den Teamkollegen. Am Ende ist das gut genug für Rang zwei, weil danach auch Atle Lie McGrath, Manuel Feller, Timon Haugan und Clément Noël an Yules Vorlage scheitern. Sechs Zehntel und mehr fährt er im zweiten Durchgang schneller als alle anderen.
Yule, von 30 auf 1: Wieder einmal schreibt ein Slalomfahrer in Chamonix eine unglaubliche Geschichte. Erst zwei Jahre ist es her, dass der für Griechenland startende AJ Ginnis hier vom 23. auf den zweiten Platz vorgefahren ist. 2021 hatten gleich zwei Schweizer eine erstaunliche Aufholjagd hingelegt. Im ersten Slalom war Luca Aerni damals von Rang 29 auf Rang 4 vorgestürmt; am Tag darauf startete Sandro Simonet wie jetzt Yule als 30. – und war am Ende Dritter.
Der Doppelsieg von Chamonix ist der erste der Schweizer Männer in dieser Disziplin seit 1978. Er verkörpert auch einen Befreiungsschlag für das Slalomteam, das bisher einen schwierigen Winter erlebte. Nach Chamonix kam es mit einem einzigen Podestplatz im Gepäck. Im Vorjahr waren es noch fünf gewesen.
Jetzt holt Yule in Frankreich seinen siebten Weltcupsieg im Slalom. Dahinter schafft Loïc Meillard seinen ersten Podestplatz in einer technischen Disziplin in diesem Winter. Im weichen Schnee von Chamonix schmelzen die Probleme der Schweizer Techniker an diesem Tag einfach weg.