Samuel Johnson war der bedeutendste englische Moralist im 18. Jahrhundert. Von ihm stammt folgendes berühmte Zitat: «Sie können sich darauf verlassen: Weiss ein Mann, dass er in 14 Tagen gehängt wird, konzentriert sich sein Geist aufs Wunderbarste.»
Der kollektive britische Polit-Geist befindet sich derzeit in einer intensiven Konzentrationsphase. Der Scheidungsvertrag mit der EU ist verhandelt und Brüssel hat glasklar gemacht, dass Änderungen nicht mehr akzeptiert werden. London kann nur noch ja oder nein sagen, und zwar bald.
Die Versprechen der Brexiters haben sich als Schall und Rauch erwiesen. Es gibt nicht «den Fünfer und das Weggli», wie etwa Boris Johnson vollmundig erklärt hat. Was vorliegt, ist ein lausiger Vertrag. Das Vereinigte Königreich kann zwar die Zuwanderung selbst bestimmen, ist jedoch sonst in allen anderen Punkten gegenüber der EU schlechter gestellt. Und ja, 45 Milliarden Euro Scheidungsentschädigung muss London ebenfalls entrichten.
Die Brexiters sind daher ausser sich vor Zorn und sprechen von einem «Kolonialvertrag». (Kommt uns irgendwie bekannt vor, oder nicht?) Eine Gruppe von konservativen Hardlinern, angeführt vom exzentrischen Jacob Rees-Mogg, will daher Theresa May stürzen und Brüssel den Stinkfinger zeigen. Das Vereinigte Königreich könne ganz gut auch ohne Deal mit der EU über die Runden kommen, argumentieren die Hardliner trotzig.
Es gibt eine kleine Chance, dass Rees-Mogg & Co. Erfolg haben und May absetzen können. Deshalb sind die britischen Beamten fieberhaft damit beschäftigt, Notfallpläne für einen No-deal-Brexit vorzubereiten. Sie tun gut daran. Im schlimmsten Fall haben die Spitäler zu wenig Medikamente, weil der Nachschub fehlt. Flugzeuge können weder starten noch landen, weil es keine verbindlichen Regeln mehr gibt. Vor dem Hafen von Dover stauen sich kilometerlang Lastwagen, die nicht mehr abgefertigt werden können, derweil sich in den Supermärkten die Regale leeren.
Die Brexiters tun dies alles als Angstmacherei ab. Doch selbst wenn der totale Crash verhindert werden kann, sind die Langzeitschäden gross. Die während Jahrzehnten ausgehandelten Verträge mit der EU müssten in den Papierkorb geworfen werden. «Die Zerstörung, die ein nicht gemilderter Austritt zur Folge hätte, wäre viel schlimmer als die wirtschaftlichen Schäden, welche die Brexit-Abstimmung bewirkt hat», warnt der «Economist».
Eine Wiederholung der Brexit-Abstimmung, wie sie immer wieder gefordert wird, ist indes keine gute Idee. Obwohl sich in aktuellen Meinungsumfragen eine knappe Mehrheit der Briten für einen Verbleib in der EU ausspricht, würde eine neuerliche Abstimmung den tiefen Graben, der bereits jetzt durch die Insel geht, nochmals vertiefen und das Vertrauen in die Demokratie erschüttern. Wird hingegen der Scheidungsvertrag angenommen, dann ist eine zweite Vermählung wieder möglich.
Ein No Deal hingegen würde bedeuten, dass die Türe zur EU lange zugeschlagen bliebe. «Ab dem 29. März 2019 gäbe es wieder eine gesicherte Grenze zwischen dem Vereinigten Königreich und Frankreich», schreibt Wolfgang Münchau in der «Financial Times». «Zölle würden wieder erhoben. Es wird wieder eine gesicherte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland geben. Ein No-deal-Brexit wäre ein realer Bruch.»
Die bevorstehende Hinrichtung beginnt zu wirken. Die Hardliner um Rees-Mogg haben Mühe, die 48 Stimmen zu sammeln, die sie brauchen, um May zu stürzen. Wie sich die oppositionelle Labour Party verhalten will, weiss sie nicht einmal selbst. Deshalb ändern sich auch die Quoten in den Wettbüros: Immer mehr Briten setzen darauf, dass Theresa May sich allen Widrigkeiten zum Trotz durchsetzen wird und den Scheidungsvertrag mit der EU fristgerecht unterzeichnen kann.