Das Vereinigte Königreich soll aus der Europäischen Union austreten. So hat es das britische Stimmvolk am 23. Juni 2016 mit knappem Mehr entschieden. Nun kommt es im Londoner Unterhaus zum Showdown: Am Dienstag stimmt das Parlament über den Austrittsplan ab, den Premierministerin Theresa May mit der EU ausgehandelt hat.
Die Zeit drängt, denn bereits am 29. März wird der Austritt fällig, zwei Jahre nachdem die Briten das entsprechende Gesuch nach Artikel 50 der EU-Verträge in Brüssel deponiert hatten. Falls Mays Brexit-Plan scheitert, droht ein «harter» Austritt, mit potenziell verheerenden Folgen für die britische Wirtschaft. Doch die Chancen stehen schlecht, eine Niederlage ist wahrscheinlich.
Was danach geschieht, ist unklar. Der Brexit hat das Londoner Regierungsviertel Westminster ins Chaos gestürzt. Diverse Szenarien werden herumgereicht. Die wichtigsten Fragen und Antworten:
Rund zwei Jahre lang waren die Briten vorwiegend mit sich selbst beschäftigt. Theresa May, die den glücklosen Premierminister David Cameron nach der Abstimmung abgelöst hatte, wiederholte mantraartig den ewig gleichen Satz: «Brexit means Brexit.» Unter Zeitdruck vereinbarten May und ihr Team schliesslich im letzten Herbst mit der EU in Brüssel den nun vorliegenden Austrittsplan.
Er sieht vor, dass Grossbritannien zumindest für einige Zeit in der Zollunion mit der EU verbleibt. Dies soll verhindern, dass an der heute offenen Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland Kontrollen eingeführt werden. Für die Hardliner in Mays konservativer Partei ist dies ein No-Go, denn damit können die Briten keine Freihandelsabkommen aushandeln.
Schlecht. Die Abstimmung über den Brexit-Deal sollte schon im Dezember stattfinden, doch weil eine Niederlage so gut wie sicher war, verschob die Premierministerin sie auf den 15. Januar. Die Erfolgschancen sind seither nicht grösser geworden. Die BBC glaubt, dass rund 100 konservative Abgeordnete und die zehn Vertreter der nordirischen Protestantenpartei DUP den Vertrag mit Labour und anderen Oppositionsparteien im Unterhaus zu Fall bringen werden.
In einer Rede vor Fabrikarbeitern in der Brexit-Hochburg Stoke-on-Trent warnte Theresa May am Montag eindringlich vor einem Nein. In diesem Fall werde es gar keinen Austritt geben. Die Gegner dürfte dies wenig beeindrucken. Laut der BBC haben am Wochenende nur vier konservative Hardliner erklärt, sie würden Mays Deal als «kleineres Übel» unterstützen. Auch Handelsminister Liam Fox – ein prominenter Brexit-Befürworter – ging am Montag von einer Niederlage aus.
"It's unlikely that we will win the vote tomorrow"@LiamFox gives #BBCBreakfast his verdict on another crucial week for #Brexit ⬇️#parliament #government pic.twitter.com/biLAV42hRi
— BBC Breakfast (@BBCBreakfast) 14. Januar 2019
Bereits letzte Woche verpasste das Unterhaus Theresa May eine schwere Niederlage. Es verpflichtete die Regierungschefin, im Fall einer Ablehnung innerhalb von drei Sitzungstagen einen «Plan B» vorzulegen. Erwartet wird, dass May am Mittwoch nach Brüssel fliegt, in der Hoffnung auf weitere Zugeständnisse durch die EU. Die Abstimmung über «Plan B» wäre am nächsten Montag.
Die Erfolgschancen sind auch in diesem Fall höchst unsicher. Für Aufsehen sorgt deshalb ein Bericht der «Sunday Times», wonach proeuropäische Abgeordnete von Tories und Labour zusammen mit Parlamentspräsident John Bercow (ein Brexit-Gegner) einen eigenen Alternativplan erarbeitet haben. Sie wollen demnach der Regierung das Heft aus der Hand nehmen.
Mögliches Ziel wäre ein «weicher» Brexit oder eine zweite Abstimmung. Eine Gruppe von Tory-Hinterbänklern wälzt laut der BBC ähnliche Ideen. Dabei würde das Parlament die Kontrolle über den Brexit übernehmen, falls May mit ihren Plänen Schiffbruch erleidet. Die Regierung sei darüber «extrem besorgt», da dies jahrhundertealte parlamentarische Abläufe auf den Kopf stellen könnte.
Ein vertragsloser Austritt am 29. März könnte gravierende Folgen haben, wie Vertreter der britischen Wirtschaft warnen. Dazu gehören Lastwagenstaus am Ärmelkanal sowie eine Knappheit und damit Verteuerung von Lebensmitteln. Britische Detailhändler bereiten sich auf den Ernstfall vor, sämtliche Kühlhäuser im Land sollen für die nächsten sechs Monate ausgebucht sein. Die «NZZ am Sonntag» hat eine ausführliche Liste der möglichen Konsequenzen erstellt.
Parteichef Jeremy Corbyn will im Fall eines Neins am Dienstag einen Misstrauensantrag gegen die Regierung May einreichen. Er hofft auf Neuwahlen innerhalb weniger Wochen. Im Fall eines Labour-Siegs soll der Brexit aufgeschoben werden. Zum Zeitpunkt des Antrags hielt er sich am Sonntag in einem Interview mit der BBC jedoch bedeckt. Er werde «bald» erfolgen, «keine Sorge».
Diese Aussage deutet darauf hin, dass sich Corbyn seiner Sache nicht so sicher ist. Tatsächlich könnten Tories und DUP, auf deren Stimmen die Regierung angewiesen ist, die Reihen schliessen und den Antrag abschmettern. Jeremy Corbyn stünde dann mit abgesägten Hosen da. Der Labour-Chef spielt ein schwer durchschaubares Spiel. Der Linksaussen war zeitlebens ein EU-Gegner. Die Parteibasis, die ihn zum Vorsitzenden gewählt hat, ist hingegen klar für den Verbleib in der EU.
Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionschef Jean-Claude Juncker versuchten, Theresa May am Montag mit einem Brief den Rücken zu stärken. Darin betonten sie, der so genannte Backstop für die irische Grenze sei höchstens vorübergehend, die endgültigen Modalitäten des Austritts würden während der bereits vereinbarten Übergangsperiode bis Ende 2020 ausgehandelt.
Den Ausgang der Abstimmung dürfte dies kaum beeinflussen. In Brüssel bereitet man sich deshalb laut dem «Guardian» auf eine «technische» Verlängerung der Austrittsfrist bis Juli vor. Theresa May soll damit Zeit für einen mehrheitsfähigen Deal erhalten. Dies könnte allerdings zu einem Problem für die Europawahl im Mai werden, an der die Briten eigentlich nicht mehr teilnehmen sollen.
Vor der Abstimmung zeichneten die Brexit-Befürworter ein rosiges Bild. Davon ist wenig geblieben. Der Austritt aus der EU entwickelt sich zu einem Albtraum, und ein Ende ist nicht in Sicht. Fest steht nur, dass der Brexit das Land tief gespalten hat. Wann die Abstimmung am Dienstag im Unterhaus genau stattfinden wird, ist unklar. Britische Medien rechnen damit, dass es erst gegen 22 Uhr MEZ so weit sein wird.