Am Wiener Kongress 1815 waren die britischen Damen das Gespött der besseren Gesellschaft. Weil Napoleon die Insel mit einem Handelsboykott belegt hatte, verpassten die aristokratischen Ladys die neuesten Modetrends und fielen an den zahlreichen Bällen wegen hoffnungslos veralteten Kleidern auf.
Eine Modeproblem wird der Brexit den Briten kaum bescheren; und diesmal ist die Isolation nicht durch Frankreich verordnet, sondern selbst gewählt. «Splendid» dürfte sie trotzdem kaum werden. Das Vereinigte Königreich droht, politisch ins Abseits zu geraten.
Das war bereits im Mittelalter so. Damals war England politisch eine relativ unbedeutende Regionalmacht. Erst der Sieg über Napoleon und die Industrielle Revolution schufen Grossbritannien, eine Weltmacht, welche die Meere beherrschte. In Europa handelten sich die Briten den Übernamen «perfides Albion» ein – Albion ist ein keltischer Ausdruck für England –, denn sie verstanden es geschickt, die europäischen Mächte gegeneinander auszuspielen und damit ihre beherrschende Stellung zu sichern.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war jedoch endgültig Schluss mit dem britischen Imperium. Weil sie aber zu den Siegermächten gehörten und eine «special relationship» nach Washington hatten, konnten die Briten auf Augenhöhe mit Berlin und Paris verhandeln.
Der Brexit macht aus Great Britain wieder Little Britain. Die Schotten fühlen sich in der EU wohl und haben soeben beschlossen, ein zweites Referendum in Sachen Selbstständigkeit durchzuführen. Auch die Nordiren sind über den Brexit alles andere als erfreut. Schliesslich ist auch Englands Gesellschaft gespalten. Es herrscht eine tiefe Kluft zwischen London und dem Rest des Landes.
Ganz anders Deutschland. Heute hat Berlin in der EU das Sagen. Fairerweise muss man anfügen, dass die Deutschen diese Rolle nicht gesucht haben, sondern dass sie ihnen förmlich aufgezwungen wird. Nichtsdestotrotz wird der deutsche Einfluss auf Europa weiter zunehmen. Die Ironie dieser Entwicklung ist mit den Händen zu greifen: Nach wie vor beziehen die Briten ihr Selbstverständnis aus dem Sieg über Hitler – der Geist von Dünkirchen lebt nach wie vor – und trotzdem übergeben sie den Schlüssel zu Europa kampflos den Deutschen.
Diese Entwicklung ist jedoch auch gefährlich. Die EU ist nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sie hat sich auch als Schutzmauer gegen Nationalismus bewährt. Der Brexit reisst ein Loch in diese Mauer, und das in einer Zeit, in der der Chauvinismus ohnehin auf dem Vormarsch ist. Langfristig könnte der Brexit deshalb sehr unerfreuliche Konsequenzen haben.
Stellen wir uns den schlimmsten Fall vor: Frankreich wird immer schwächer und nationalistischer. Irgendwann kommt der Front National an die Macht. Die alte Feindschaft zwischen Frankreich und Deutschland wird wieder belebt. Die EU zerbricht. Gleichzeitig gerät Berlin wegen seinen nach wie vor hohen Exportüberschüssen aus Washington unter Druck.
«In diesem Fall wird der Kollaps der EU zu einem Hegemonie-Kampf zwischen Deutschland und Russland werden», schreibt Martin Wolf in der «Financial Times». «Oder schlimmer noch, zu einem Pakt zwischen den beiden auf Kosten ihrer Nachbarn.»
Ein Bündnis zwischen Deutschland und Russland ist der Traum aller Stalinisten und Neo-Faschisten. Ideologen wie Alexander Dugin in Russland oder der französische Philosoph Alain de Benoist – ein führender Vertreter des Euro-Faschismus – schwärmen davon und bedauern, dass Hitler und Stalin einst gegeneinander Krieg geführt haben, anstatt sich gegen die angelsächsischen Kapitalisten zu verbünden. Diesmal könnte es klappen. Der Traum der Neofaschisten würde zum Albtraum des Westens – und die Mode an grossen Bällen würden unser kleinstes Problem sein.