Die These des Buches «Die neue Völkerwanderung nach Europa» lautet in der Kurzfassung wie folgt: Europa war vollkommen unvorbereitet auf die Massenimmigration der letzten Jahre aus dem Nahen Osten und aus Afrika. Schuld daran sind Gesetze, die sich an der Situation des Zweiten Weltkrieges orientieren, und die Illusion, ohne gesicherte Aussengrenzen auskommen zu können. Die schlimme Nachricht lautet zudem: Wir haben erst den Anfang erlebt – und wenn wir nicht bald etwas unternehmen, gehen wir vor die Hunde.
Nun zur längeren Fassung. Schwarz verweist im Vorwort auf Nassim Nicholas Talebs Bestseller aus dem Jahr 2007, «Der Schwarze Schwan». Dessen Grundthese lautet: Scheinbar unwahrscheinliche Ereignisse sind viel wahrscheinlicher geworden. «Jetzt, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, ist aber zweifellos ein schwarzer Schwan aufgetaucht: die neue Völkerwanderung nach Europa», so Schwarz.
Schwarze Schwäne sind exotisch, aber harmlos. Die Völkerwanderung ist es nicht. Europa ist gemäss Schwarz mit der aktuellen Lage heillos überfordert. «Jene vielen Millionen entwurzelte Flüchtlinge, die vor den Toren stehen und ganz bestimmte Staaten der EU als Zielländer im Blick haben, sind nicht mehr zu verkraften, weder auf den Arbeitsmärkten noch budgetär noch psychologisch», stellt er fest.
Als einen Grund für die Misere ortet Schwarz eine Gesetzgebung, die rückwärts anstatt vorwärts orientiert ist. Die EU gab sich in den Verträgen von Lissabon ein Asylrecht, das zwar moralisch edel ist, in der Praxis jedoch fatale Folgen hat. «Entscheidend war dabei das Versprechen sekundären Schutzes für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge, dies verbunden mit der Bereitschaft, sich vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auf eine sehr strikte Beachtung der humanitären Vorschriften festlegen zu lassen», so Schwarz.
Die Motive für dieses Asylrecht reichen zurück in die Fünfzigerjahre und die Erfahrungen mit den menschenverachtenden totalitären Regimes. «Im Zweiten Weltkrieg hatten viele Verfolgte ihr Leben verloren, ganz besonders jüdische Flüchtlinge, weil sie von neutralen Staaten an das Dritte Reich ausgeliefert worden waren», stellt Schwarz fest. «Unter den Bedingungen des Kalten Krieges leuchtete auch allgemein ein, weshalb Flüchtlinge nicht an die zeitgenössischen kommunistischen Regimes in ihren Herkunftsländern ausgeliefert werden durften.»
In Europa entstand in der Folge ein auf den Idealen des Menschenrechts beruhendes Asylrecht, wie es sonst nirgends in der Welt existiert. Lange ging das gut. Die Anzahl der Flüchtlinge, die bis zur Jahrhundertwende nach Europa kamen, liess sich problemlos abwickeln, selbst wenn jeder Einzelne das Recht auf individuelle Prüfung hatte.
Strömen hingegen Hunderttausende auf einen Schlag in ein Land, wie das im Herbst 2015 in Deutschland geschah, ist das System rettungslos überfordert. Die meisten werden zunächst provisorisch aufgenommen, weil sie weder zurückgeschickt werden können noch eine definitive Aufenthaltserlaubnis erhalten.
Für Schwarz sind die juristischen Bedingungen der EU für Flüchtlinge unhaltbar geworden. «Dass gegenwärtig einige Milliarden Menschen mit dem Individualrecht ausgestattet sind, in der EU ein sorgfältig zu prüfendes Asylverfahren in Gang zu setzen, ist zwar absurd, beruht aber auf felsenfesten ethischen Überzeugungen.»
Ebenfalls gut gemeint ist das Schengen-Abkommen, das ein Europa ohne Grenzen zum Ziel hat. In der Praxis hat es dazu geführt, dass die einzelnen Nationen auf Grenzkontrollen verzichten, die EU hingegen die gemeinsame Aussengrenze nur mangelhaft schützt. Griechenland und Italien sind zu Einfallstoren für Flüchtlinge geworden.
Mit der Türkei hat man einen mehr als fragwürdigen Vertrag abgeschlossen, um die Balkanroute zu schliessen. Die – die Truppe, welche die Aufgabe hat, die Aussengrenze zu schützen –, ist viel zu schwach und wird zudem oft unfreiwillig zur Komplizin von rücksichtslosen Schleppern, indem sie die Flüchtlinge aufgreift, die von ihnen mit Schlauchbooten aufs offene Meer geschickt werden.
Das Resultat fasst Schwarz wie folgt zusammen: «Dass das System der offenen Grenzen dreissig Jahre später eine beispiellose Völkerwanderung aus Afrika und dem Orient nach Europa erlauben würde, lag ausserhalb jeder Vorstellung.»
Nach dem turbulenten Herbst 2015 hat sich die Lage deutlich beruhigt, doch eine Entwarnung wäre fehl am Platz. Der Flüchtlingsstrom wird so schnell nicht versiegen. «Im Grunde herrscht im Nahen Osten und Mittleren Osten ein unbeschreibliches Chaos», stellt Schwarz fest. «Europa wird also auf lange Zeit mit Kriegen, Bürgerkriegen und folglich mit Flüchtlingen aus dem muslimischen Krisenbogen konfrontiert sein.»
Auch der Migrationsdruck aus dem Schwarzen Kontinent wird anhalten. «Die demographische Asymmetrie zwischen dem wohlhabenden, vor sich hin alternden Europa und den partiell ruinierten afrikanischen Gesellschaften, in denen es von jungen Menschen ohne Zukunftsaussichten wimmelt, ist gross. Auch aus diesem Teil der Welt sind somit Wanderungsbewegungen in grossem Umfang zu erwarten», stellt Schwarz fest.
Die Völkerwanderung wird so zur Überlebensfrage von Europa. Der Nationalismus ist auf dem Vormarsch, die traditionellen Parteien werden aufgerieben. Das haben die Wahlen in Frankreich soeben erneut bewiesen, und der Teilsieg des liberalen Emmanuel Macron kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Polarisierung der Gesellschaft weiter zunehmen wird. Es stehen sich zwei diametral entgegengesetzte Überzeugungen gegenüber: Hier die Ethik des humanitären Universalismus, dort die Forderung nach dem Schutz der eigenen Bürgerrechte.
Kann es zu einer Lösung kommen? Gemäss Schwarz muss dazu viel mehr Hilfe vor Ort geleistet werden, damit die Völkerwanderung erst gar nicht in Gang kommt. Dann muss das Asylrecht den veränderten Verhältnissen angepasst, müssen die Aussengrenzen besser geschützt und innerhalb von Europa wieder partielle Grenzkontrollen – ein Schengen light – eingeführt werden. Illusionen sollte man sich dabei ersparen, «denn jedermann weiss, dass viele dieser Massnahmen bedrückend, hässlich, polarisierend und mit schwer abschätzbaren Nebenwirkungen verbunden wären», wie Schwarz nüchtern feststellt.