Was haben Marxisten und Zeugen Jehovas gemeinsam? Sie warten seit rund 150 Jahren darauf, dass die von ihnen verabscheute Welt untergeht. Sehr wahrscheinlich werden sie noch einmal so lange warten müssen. Mindestens.
Die Zeugen Jehovas haben es mittlerweile aufgegeben, einen Zeitpunkt für die Wiederkehr Christi zu benennen. Zu oft sind sie in der Vergangenheit auf die Nase gefallen. Die Marxisten wiederum hoffen bei jeder wirtschaftlichen Krise auf den Kollaps des Kapitalismus. Nur um jedes Mal feststellen zu müssen, dass sie seine Widerstandskraft unterschätzt haben.
Umso erstaunlicher ist es, dass die Lehren von Karl Marx, der vor 200 Jahren geboren wurde, bis heute eine enorme Anziehungskraft ausüben. So versuchten die JUSO mehrfach, die Abschaffung des Privateigentums in das Wirtschaftspapier der SP Schweiz aufzunehmen. Am Parteitag im Dezember 2016 in Thun gelang es ihnen sogar, ehe die Parteileitung intervenierte.
Als die JUSO im Februar in Altdorf einen weiteren Anlauf nahmen, reagierte Roger Nordmann, der Chef der SP-Bundeshausfraktion, unwirsch: «Wir sind doch nicht die Kommunistische Partei!» Was in diesem Satz indirekt enthalten ist: Alle Versuche, die marxistische Utopie einer klassenlosen Gesellschaft in der realen Welt umzusetzen, endeten ernüchternd bis katastrophal.
Trotzdem bleibt die Vorstellung einer Welt, in der die Klassengegensätze, die Nationen und am Ende auch der Staat verschwinden, für viele Menschen verlockend. Weshalb Karl Marx in einem ZDF-Dokudrama zu seinem 200. Geburtstag als «wirkungsmächtigster Deutscher neben Martin Luther» bezeichnet wird. Beide haben mit ihrem Denken die Welt verändert.
Wer Marx kennenlernen will, greife zum «Manifest der Kommunistischen Partei», das er 1848 mit seinem Freund Friedrich Engels veröffentlicht hatte. Die Lektüre lohnt sich nicht nur, weil es sich um einen kurzen und im Vergleich zu seinem monströsen Hauptwerk «Das Kapital» leicht verständlichen Text handelt. Für Kenner steckt darin im Grundsatz bereits alles, worauf Marx hinaus will.
Berühmt wurde das Manifest durch seinen ersten und den letzten Satz. Es beginnt mit einer Feststellung:
Und es endet mit dem Aufruf:
Dazwischen entwickeln Marx und Engels ein Programm zur Überwindung der bourgeoisen Eigentumsverhältnisse durch eine kommunistische Revolution. Die Radikalität des Textes ist geprägt durch die Zustände im damaligen Frühkapitalismus, als die Menschen – darunter häufig Kinder – unter erbärmlichsten Umständen in den Fabriken schuften mussten.
Es entbehrt nicht der Ironie, dass Karl Marx diese Realität kaum kannte. Er beklagte das Schicksal der Arbeiter, hatte selber aber ein gespaltenes Verhältnis zur Erwerbsarbeit. Im Londoner Exil nach 1848 arbeitete er als Journalist, doch die Honorare reichten nirgendwo hin. Marx sass lieber in der British Library und verschlang Bücher, während seine Familie kaum etwas zu beissen hatte.
Über Wasser halten konnte sie sich nur dank den Zuwendungen des Fabrikantensohnes Friedrich Engels, der als Kapitalist und Revolutionär selber eine widersprüchliche Figur war. Er vollendete die Bände 2 und 3 des «Kapitals» aus den hinterlassenen Manuskripten des 1883 verstorbenen Freundes. Marx selbst hatte trotz jahrelanger Arbeit nur den ersten Band zur Druckreife gebracht.
Weder Marx noch der 1895 verstorbene Engels erlebten, wie ihre Lehre von der klassenlosen Gesellschaft in die Praxis umgesetzt wurde. Als «Versuchslabor» diente ausgerechnet Russland, ein agrarisch geprägtes Land, in dem es kaum Industrie und damit keine eigentliche Arbeiterschaft gab. Trotzdem gelangten die Kommunisten mit der Oktoberrevolution 1917 an die Macht.
Die Folgen sind bekannt. Der real existierende Sozialismus hält sich noch in Ländern wie Kuba und Nordkorea, die man kaum als Vorbilder bezeichnen kann. Die Machthaber in China sind nur dem Namen nach Kommunisten. Marx habe die «schlechte» Umsetzung seiner Lehre nicht voraussehen können, heisst es oft entschuldigend. Ebenso wenig die damit verbundenen Exzesse.
Mag sein, dass Karl Marx, der selber ein Opfer politischer Verfolgung war, die stalinistischen Säuberungen, die chinesische Kulturrevolution oder den Terror der Roten Khmer in Kambodscha verurteilt hätte. Der Vordenker der klassenlosen Gesellschaft war jedoch kein Apostel der Gewaltlosigkeit. Ihm war bewusst, dass die Revolution nicht friedlich verlaufen würde.
Die Kommunisten erklärten offen, «dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung», heisst es am Ende des «Manifests». Konkret geschehen werde dies «vermittelst despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse», schrieben Marx und Engels im gleichen Text.
Gewalt war demnach ein unvermeidliches Mittel zur Überwindung des Kapitalismus. Auch zur «Diktatur des Proletariats» – der Begriff stammte nicht von ihm – hatte Marx ein unverkrampftes Verhältnis. Dass dieser Weg nicht ins Paradies der Werktätigen führen würde, sondern zu Tyrannei, Umweltzerstörung und Mangelwirtschaft, konnte er wohl tatsächlich nicht voraussehen.
Das gilt erst recht für die Beständigkeit des Kapitalismus. Wenn SP-Nationalrat Cédric Wermuth im Interview mit dem «Tages-Anzeiger» erklärt, der Kapitalismus sei «kein stabiles System», so hat er natürlich recht. Er ist im Gegenteil ein dynamisches System, das zerstörerische, aber auch kreative Energien freisetzen kann. Ein Aspekt, den Marxisten oft übersehen oder kleinreden.
Der Kapitalismus ist auch lernfähig. Dank Sozialpartnerschaft und sozialer Marktwirtschaft sind zumindest in der westlichen Welt unzählige Proletarier in jene «Mittelstände» aufgestiegen, die im Kommunistischen Manifest als «reaktionär» verunglimpft werden. Damit hatte Karl Marx kaum gerechnet, andernfalls hätte er sich wohl seine eindrucksvolle Haarpracht gerauft.
Die Idee einer klassenlosen Gesellschaft mag für manche Linke verlockend sein. Für die meisten Menschen bleibt sie eine abstrakte bis bedrohliche Perspektive. Privateigentum beschränkt sich nicht auf das Zahnbürstli oder andere persönliche Besitztümer, wie die JUSO treuherzig erklären. Es bildet einen wichtigen Anreiz für Innovationen, ob das einem passt oder nicht.
Es ist kein Zufall, dass die Linke kaum von den Herausforderungen des Kapitalismus durch die Globalisierung und die Finanzkrise 2008 profitieren konnte. Es sind im Gegenteil die Rechten, die zugelegt haben. Sie locken mit der vermeintlichen Geborgenheit des Nationalstaats, während sich die globalisierungskritische Linke Leerformeln wie den «solidarischen Protektionismus» absondert.
Marx hat vieles richtig erkannt. So wird im Kommunistischen Manifest die Globalisierung vorweg genommen. Seine Ideen aber scheitern wie praktisch alle Ideologien an der Unberechenbarkeit der menschlichen Natur. Die Marxisten werden dennoch unverdrossen auf den Untergang des Kapitalismus warten.
Karl Marx selbst hatte zu seinen Anhängern ein durchaus zwiespältiges Verhältnis. Darauf lässt zumindest jener Satz schliessen, der von Freund Engels überliefert wurde: