Robert Habeck, Kanzlerkandidat der Grünen, sagt über den letzten Wahlkampf 2021 in Deutschland: «Wir haben damals nicht die wirklich wichtigen Themen angesprochen.» Mit «wir» meint Habeck alle Parteien, die sich am Wahlkampf beteiligten. Und als «wirklich wichtige» Themen nennt er erstens: «Die Bedrohung durch Russland und die deutsche Abhängigkeit von russischem Gas – obwohl die russischen Truppen sich schon bereit machten» und zweitens: die Schwäche der deutschen Wirtschaft und Industrie, «obwohl wir seit 2019 kein wirkliches Wachstum mehr hatten».
Was damals noch kaum angesprochen wurde, ist im diesjährigen Wahlkampf allgegenwärtig: Deutschland erinnert wieder an den «Kranken Mann Europas», als den es bereits in den späten 90er Jahren einmal bezeichnet wurde. Tatsächlich stagniert die deutsche Wirtschaft, die im vergangenen Jahrzehnt die europäische noch massgeblich vorangetrieben hat, seit 2019:
Die Grafik zeigt: Deutschland befindet sich in einer ausgesprochen langen Schwächephase. Im Vergleich zu anderen OECD-Ländern lief es im selben Zeitraum nur für Japan, das ebenfalls seit einigen Jahren stagniert, noch schlechter. In allen anderen Industrienationen wächst die Leistung seit dem Corona-Einbruch wieder, teils deutlich. In den USA zum Beispiel ist die Wirtschaft seit 2019 um rund 14,6 Prozent gewachsen.
Dabei wird immer offensichtlicher, dass es sich in Deutschland nicht um eine konjunkturelle, sondern um eine tiefgreifende strukturelle Krise handelt. Mit anderen Worten: Die Entwicklungen sind nicht alle Teil eines normalen Konjunkturzyklus, bei dem auf kurze Einbrüche gleich wieder Aufschwünge folgen – sondern vielmehr die Folge von grundsätzlichen, strukturellen Verschiebungen.
Welche Verschiebungen sind das? Und was oder wer ist schuld daran? Sechs Punkte, die für Deutschlands Krise verantwortlich sind – und was jetzt am meisten dagegen helfen würde.
Was Robert Habeck mit dem eingangs erwähnten Zitat wohl auch ausdrücken wollte: Die Krise hat nicht erst mit der Ampel-Regierung begonnen. So geht die Produktion in der Industrie bereits seit 2017 zurück. Das zeigt sich auch – oder insbesondere – an den Zahlen aus der Autoindustrie. Die Produktion brach bereits vor der Pandemie 2020 ein und fiel auch danach noch weiter ab. Seither hat sie sich zwar erholt, ist aber längst noch nicht auf dem Niveau von vor 2018.
Dazu muss man wissen, wie wichtig dieser Industriesektor für Deutschlands Wirtschaft traditionell ist. Während in allen global stärksten Volkswirtschaften heute der Dienstleistungssektor der mit Abstand wichtigste ist, ist der Industriesektor in Deutschland mit etwa 24 Prozent Anteil am BIP vergleichsweise gross – ähnlich, übrigens, wie in der Schweiz.
Doch die deutsche Industrie ist am kränkeln, die Gründe dafür sind vielfältig. Da sind einerseits die extrem hohen Energiepreise: In Deutschland sind die Preise für Gas bis zu siebenmal und diejenigen für Strom bis zu fünfmal höher als an konkurrierenden Produktionsstandorten in anderen Ländern. Für die dortzulande wichtige Auto-, Maschinenbau-, Chemie oder Metallindustrie ist dies gleichbedeutend mit massiven Nachteilen, da ihre Produktion dadurch vergleichsweise teurer ausfällt.
Ausgelöst durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine und die daraus folgende Abkehr von russischem Gas sind die Preise auch knapp drei Jahre später noch hoch, und die Politik hat bis jetzt noch keine wirklich funktionierende Lösung dafür gefunden. (Mehr zu den Gründen für die hohen Energiepreise erfährst du zum Beispiel hier.) Die Folgen sind verheerend: Viele Unternehmen überlegen sich eine Abwanderung ins Ausland – oder haben diesen Schritt bereits vollzogen.
Die Konkurrenz aus dem Ausland, insbesondere aus China und den USA, hat sich aber nicht nur wegen der Energiepreise verstärkt. Während die Regierungen dort Milliarden in Strukturpakete oder ganze Industrien (China, zum Beispiel, in die Elektroautoindustrie) stecken, ist es in Deutschland bislang vielmehr bei einzelnen, verstreuten Subventionen ohne übergreifenden Plan geblieben.
Neben der Politik standen irgendwann aber auch die Akteure in der Wirtschaft selber in der Kritik: Hat man sich womöglich zu lange auf den Lorbeeren ausgeruht und so wichtige Umstellungen verschlafen? Der Digitalisierung sei zu wenig Dringlichkeit eingeräumt worden, während asiatische Unternehmen mächtig vorwärtsmachten. Zudem fehlt es Deutschland heute in dieser zunehmend digitalen Welt an Start-ups, die das Wachstum der nächsten Generation vorantreiben könnten.
Die Autoindustrie habe sich zu stark auf Wettbewerbsvorteilen, die sie zweifelsohne zum Beispiel beim Verbrennermotor hat, ausgeruht. Die Folge: Statt konsequent auf den Elektromotor umzusatteln, wollte man bei VW und Co. noch die letzten Früchte an den alten Bäumen ernten. Nun läuft China – zuvor ein wichtiger Absatzmarkt deutscher Autos – bei den E-Autos Deutschland langsam aber sicher den Rang ab.
Ganz unschuldig ist aber auch die Politik nicht. Was die letzten Jahre unter der Koalition zwischen SPD, Grünen und FDP angeht, so hat sie der Wirtschaft vor allem mit einem geschadet: der politischen Unsicherheit.
Ein Beispiel dafür war der abrupte Entscheid der Regierung, die Subventionen bei E-Auto-Käufen auf Ende 2023 einzustellen. Dies, nachdem ein Bundesgerichtsurteil die Umwidmung von 60 Milliarden Euro aus dem Corona-Fonds in den Haushalt für nichtig erklärt hatte – was zu einer schweren Haushaltskrise führte. Die Einstellung der Subventionen schadete den Autoherstellern, die die Produktion von batteriebetriebenen Autos eben erst hochgefahren hatten. Die Nachfrage brach ein und die Autobauer haben seither Tausende Angestellte entlassen. Der Entscheid der Koalition hat aber auch nachhaltig geschadet: immer mehr Unternehmen leiden unter fehlenden Planungssicherheit, ihr Vertrauen in die Politik ist zunehmend geschädigt.
Dass Ende letzten Jahres die Ampel-Koalition in die Brüche ging, half natürlich auch nicht. Und bis eine neue Regierung gewählt ist, wird sich an diesen Umständen auch wenig ändern.
Die Ampelregierung war zwar von Beginn weg mit einer Vielzahl von Krisen (Corona-Nachwehen, Krieg in der Ukraine, Abkoppelung von russischem Gas, Haushaltskrise) konfrontiert, für die sie auch oft nichts konnte. Aber ob selbstverschuldet oder nicht: Am Ende scheiterte sie beim Versuch, zwei wesentliche Vorhaben umzusetzen: die Bürokratie abzubauen und den Investitionsstau zu lindern.
Deutsche Unternehmen monieren seit Jahren, die Bürokratie sei das grösste Problem der Wirtschaft – je kleiner das Unternehmen, desto grösser die Bürde. Im November bezifferte eine Studie des Ifo Instituts in München die so verlorene Wirtschaftsleistung auf jährlich 146 Milliarden Euro. Auch hier könnte die Digitalisierung grosse Abhilfe schaffen. Zwar ist die Last der Bürokratie seit Beginn der Ampel-Regierung leicht gesunken, viele Experten stellen ihr aber trotzdem noch ungenügende Noten aus.
Auch die teilweise marode Infrastruktur gilt als riesiges Problem für die deutsche Wirtschaft. Einstürzende Brücken, alte Strassen, eine notorisch verspätete Bahn und zunehmend unterfinanzierte Schulen – alles reale Probleme in Deutschland – sind für die Produktivität in einem Land überhaupt nicht förderlich. Der öffentliche Investitionsbedarf wird derzeit auf unglaubliche 400 bis 800 Milliarden Euro beziffert. Es wäre Geld, das wiederum woanders im Haushalt fehlen würde – zu einer Zeit, in der auch andere Ausgaben, wie zum Beispiel die Rüstungsausgaben, steigen müssten.
Nicht nur dem bekannten US-amerikanischen Ökonomen Kenneth Rogoff ist klar, was zu tun wäre, damit Deutschland der Aufschwung gelingt:
Die Frage ist nur: mit welchem Geld? Denn laut Grundgesetz dürfen hierfür keine weiteren Schulden gemacht werden.
Nach dem Vorbild der Schweiz hat auch Deutschland 2009 eine gesetzliche Schuldenbremse eingeführt. Strukturelle – also von der Konjunktur unabhängige – Neuverschuldung ist damit nur noch bis zu einer Höhe von 0,35 Prozent des BIPs gestattet. Ausnahmen bei Naturkatastrophen oder Wirtschaftskrisen sind zwar zulässig. Die Ampel-Regierung konnte sich allerdings nicht darauf einigen, ob eine solche Krise ausgerufen werden sollte. (Es war übrigens genau diese Frage, an der die Koalition am Ende auch zerbrach.)
Bezüglich Staatsverschuldung weist Deutschland dank der Schuldenbremse europaweit eine der geringsten Schuldenquoten auf. Doch angesichts des Investitionsstaus, welche die Ära Merkel der Ampelregierung hinterlassen hat, und der Stagnation der Wirtschaft wird immer mehr an ihrer Nützlichkeit gezweifelt. Ökonominnen und Politiker, die an der Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form festhalten wollen, sehen sich mittlerweile in der Minderheit.
Mit Ausnahme der CDU und der AfD haben sich auch viele Parteien im laufenden Wahlkampf zwar nicht alle für eine Abschaffung, aber mindestens für eine Reform der Schuldenbremse ausgesprochen. So wird diskutiert, dass Investitionen in Zukunft von der Schuldenbremse ausgenommen werden könnten.
Die Befürchtung, dass sich Deutschland «kaputtspart», wird immer grösser und die meisten Beobachter sind sich zunehmend einig: Die nächste Regierungskoalition wird wohl nicht um eine Reform herumkommen.
Wie viele Industrienationen sieht sich auch Deutschland mit Problemen auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert. Zwar ist die Arbeitslosenquote seit einigen Jahren mit zwischen 5 und 6 Prozent historisch tief und damit nicht zu vergleichen mit den Nullerjahren. Zu schaffen machen vielmehr die alternde Demografie und stagnierende Löhne.
Aufgrund der hohen Inflationsrate in den Jahren nach der Pandemie haben in Deutschland die Reallöhne (also die Nominallöhne abzüglich der Inflation) lange stagniert – oder sind sogar gesunken. 2023 waren sie zurück auf dem Niveau von 2015.
Seither sind die Reallöhne wieder etwas gestiegen, aber zu wenig stark, als dass sie für einen Aufschwung sorgen könnten. Hinzu kommen die vielen Entlassungen, welche in den letzten Monaten besonders die Industrie vorgenommen hat und die die Arbeitslosigkeit zuletzt wieder erhöht haben. Eine gesunkene Kaufkraft führt, gemeinsam mit einem schrumpfenden Arbeitsangebot, zu einer sinkenden Nachfrage durch die Konsumentinnen und Konsumenten. Das wiederum schadet den Unternehmen – und so weiter.
Als drittgrösste Exportnation der Welt ist die deutsche Wirtschaft der herausfordernden geopolitischen Lage besonders ausgesetzt. Da ist zunächst der Krieg in der Ukraine, der einen Energiepreis-Schock brachte, der Deutschland härter traf als andere Länder: Die Industrie ist sehr gasintensiv und stark mit Osteuropa verbunden.
Hinzu kommt nun die grosse Angst vor der neuen Trump-Administration und den drohenden Zöllen. Denn Deutschland hat ein Handelsbilanzüberschuss gegenüber den USA – und der neue US-Präsident betrachtet Handelsbilanzdefizite bekanntlich als Schwäche gegenüber anderen Ländern. Mit hohen Zöllen will er diese in Überschüsse umkehren. Es wären Zölle, die Deutschland aufgrund seines grossen Handelsvolumens mit den USA ganz besonders schaden würden – und die deshalb in der Wirtschaft weiter Angst und Unsicherheit schüren.
Schlechte Infrastruktur, viel Bürokratie, hohe Energiepreise, Investitionsstau, Unsicherheiten – all das schadet einer Volkswirtschaft enorm. Und es zeigt sich, zusammengefasst, an einer Grösse: der Produktivität. Deren Sinkflug hat bereits vor der Corona-Krise begonnen.
Noch ist nicht absehbar, wie lange diese Stagnationsphase dauern wird. Immerhin rechnet die Bundesregierung für die kommenden Jahre wieder mit einem moderaten Wachstum. Andererseits mussten die Ökonomen Ende 2024 ihre Erwartungen für 2025 schon wieder senken.
Für die deutsche Wirtschaft wird das laufende Jahr daher zum Schicksalsjahr: Wer wird das Land die nächsten Jahre regieren? Und wird die neue Koalition die Schuldenbremse reformieren und damit den Investitionsstau angehen können? Kann die Industrie dem vielseitigen Druck standhalten – oder wird es schmerzhafte Verschiebungen und eine Art Deindustrialisierung geben müssen?
Die Antworten auf diese Fragen gehen nicht nur Deutschland alleine etwas an. Unser nördlicher Nachbar ist der wichtigste Handelspartner der Schweiz. Dass es in Deutschland, der einstigen Wirtschaftslokomotive Europas, nicht rund läuft, hat auch hierzulande dazu geführt, dass die wirtschaftliche Erholung langsamer vonstattengeht als erhofft. Besonders die Schweizer Exportindustrie, insbesondere die Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie, hat ein schwaches Deutschland deutlich zu spüren bekommen.
Spätestens Ende Jahr dürfte sich nun weisen, in welche Richtung die Pfeile der wichtigsten Wirtschaftszahlen Deutschlands zeigen.
Ein Staat ist nun mal kein Haushalt und die 'schwäbische Hausfrau' mit ihrer 'schwarzen Null' war einer der dümmsten Mythen der deutschen Wirtschaft seit es die BRD in ihrer heutigen Form gibt. Dass die FDP als angebliche Wirtschaftspartei das nicht erkannte und mit der Schuldenbremse als neue heilige Kuh die Politik der Ampel an die Wand fuhr, spricht auch nicht gerade für ihre Kompetenz.
Aber hauptsache Söder und Merz prügeln auf die Grünen ein, statt ernsthafte Investitionspläne vorzustellen.