Die UBS hat kürzlich eine Studie veröffentlicht, die besagt, dass in China derzeit jede Woche zwei neue Milliardäre hinzukommen. Sie sind ein führender Spezialist in Sachen Ungleichheit. Was sagt Ihnen das?
Zuerst einmal, dass China immer reicher wird. Dass die Ungleichheit der Vermögen in China besonders ausgeprägt ist, überrascht mich nicht wirklich. Obwohl es offiziell immer noch ein kommunistisches Land ist, beweisen alle Indikatoren, dass es wirtschaftlich kapitalistisch geworden ist. Chinas Wirtschaft lässt sich heute in etwa mit derjenigen Frankreichs in den Achtzigerjahren vergleichen.
Viele Experten sagen voraus, dass künstliche Intelligenz und Roboter die bereits grosse Ungleichheit nochmals massiv verstärken werden. Sehen Sie das auch so?
An dieser These ist was dran, aber die Entwicklung wird nicht überall gleich verlaufen. Nehmen wir das Beispiel der Schweiz: Das Durchschnittseinkommen eines Schweizers dürfte rund 15-mal grösser sein als das eines Inders. Sein Vermögen ist jedoch rund 30-mal grösser. Der Ertrag aus dem Vermögen des Schweizers wird von Robotern und künstlicher Intelligenz nicht betroffen werden. Weltweit wird daher die Ungleichheit noch zunehmen.
Aber auch die Löhne des Schweizer Mittelstandes werden unter Druck geraten. Ihr Ökonomen-Kollege Tyler Cowen spricht daher bereits von einer Gesellschaft, in der es eine breite Masse von Menschen gibt, die von billigem Essen und billiger Unterhaltung in billigen Wohnungen leben und kaum mehr arbeiten. Dazu kommt eine gebildete Alternative, die ein bescheidenes Bohème-Leben in Städten führt, und schliesslich eine kleine, superreiche Elite, die in bewachten Luxussiedlungen haust. Was halten Sie von diesem Szenario?
Wir müssen die digitale Revolution mit der ersten industriellen Revolution vergleichen. Die erste industrielle Revolution hat wegen des Kolonialismus vor allem Asien verarmen lassen. So konnte etwa die indische Textilindustrie nicht mehr mit der britischen mithalten. Die digitale Revolution hat nun sehr zwiespältige Auswirkungen auf die reichen Länder. Zweifellos werden intelligente Maschinen – ich mag den Ausdruck Roboter nicht – Jobs vernichten. Das erleben wir bereits heute. Reisebüros und Verkäufer verschwinden und werden durch Maschinen ersetzt etc. In den reichen Ländern zeichnet sich eine Spaltung ab. Einerseits gibt es eine reiche und gut ausgebildete Elite, andererseits entsteht eine schlecht bezahlte Klasse, die Dienstleistungen verrichtet, die nicht handelbar sind.
Haare schneiden, beispielsweise?
Nicht nur. Auch Food-Kuriere gehören dazu, oder Pflegepersonal etc. Die Menschen, die diese nicht handelbaren Dienstleistungen ausüben, sind oft in der sogenannten Gig-Ökonomie tätig, will heissen, sie haben keine feste Anstellung mit allen sozialen Sicherheiten, sondern sie üben abwechslungsweise verschiedene Jobs aus. Ein Barrista verbringt auch Stunden damit, Hunde spazieren zu führen, und koordiniert seine Tätigkeiten mit einer App auf seinem Smartphone. Diese Dinge lassen sich nicht durch Maschinen ersetzen, aber sie sind auch schlecht bezahlt.
Ist es unausweichlich, dass immer mehr Menschen in prekäre Verhältnisse abgleiten?
Es gibt keinen Plan, der von bösen Menschen ausgeheckt wurde. Es ist die Natur der Jobs, die sich verändert hat. Wir gehören wahrscheinlich zur letzten Generation, die in den Genuss von langfristigen Jobs gekommen ist.
Gemäss Marx müssten sinkende Löhne und steigende Ungleichheit in einem Wiedererwachen des Klassenkampfes münden. Weshalb geschieht das nicht?
Klassenkampf ist in einer Gig-Ökonomie praktisch unmöglich. Klassenkampf geht dort, wo viele Arbeiter am gleichen Ort die praktisch gleiche Arbeit ausüben. Marx sprach daher von der «Gleichheit der Bedingungen, unabhängig vom Willen des Einzelnen». Wie aber sollen sich Yoga-Lehrer, Fitness-Instruktoren, Hunde-Spazierführer und Barristas organisieren?
Indem Sie für einen anständigen Mindestlohn kämpfen, beispielsweise.
Selbst ein Mindestlohn würde nur wenig an den prekären Bedingungen ändern. Deswegen erleben wir derzeit in Frankreich ein diffuse Revolte der «gelben Westen». Sie lassen sich politisch nicht einordnen, ja, sie wissen selbst nicht, was sie überhaupt wollen. Ich war in der zweiten Woche der Revolte in Paris und habe stundenlang die Diskussionen am TV verfolgt. Mir ist nie klar geworden, was für Forderungen die Gelbwesten stellen.
Wird sich die chaotische Revolte der Gelbwesten bald auf die ganze reiche Welt ausdehnen?
Wir befinden uns am Anfang einer neuen Wirtschaftsordnung, daher ist das Chaos auch nicht überraschend. Nicht nur Frankreich bebt, ganz Europa befindet sich in Aufruhr. Im Osten finden in Polen derzeit Massendemonstrationen statt. In Ungarn gehen die Menschen wegen den neuen Arbeitsgesetzen auf die Strasse. Massendemonstrationen auch in Serbien und in der Türkei. In Westeuropa haben wir Chaos in Italien, Frankreich und Grossbritannien.
Sind die Ursachen überall die gleichen?
Derzeit ist alles sehr widersprüchlich, selbst bei den Herrschenden. Was will beispielsweise die italienische Regierung? Was will der Front National? Wir wissen es nicht – und sie selbst wissen es wahrscheinlich auch nicht.
Bestätigt sich derzeit die These von Thomas Piketty, wonach eine Gesellschaft instabil wird, wenn ein gewisses Mass an Ungleichheit überschritten wird?
Ich stimme Piketty in diesem Punkt zu, obwohl ich nicht weiss, ob wir das kritische Mass an Ungleichheit bereits erreicht haben. Was wir auf jeden Fall erleben, ist eine massive Polarisierung der Gesellschaft. Die Wut der Gelbwesten wird nicht nur von der Ungleichheit getrieben, sondern auch von der Arroganz und der Teilnahmslosigkeit der Elite. Eine Gesellschaft, in der sich ein Drittel der Menschen nicht mehr respektiert fühlt, kann nicht stabil sein.
Der Wirtschaftshistoriker Walter Scheidel hat nachgewiesen, dass bisher nur der Krieg die Ungleichheit wieder korrigieren konnte. Gibt es auch einen friedlichen Weg?
Ich teile diese Ansicht nicht. Die Entwicklung von Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg etwa beweist, dass es auch friedliche Methoden gibt: Gewerkschaften und linke Parteien haben mitgeholfen, dass ein breiter Mittelstand und ein Sozialstaat entstanden und dass die Ungleichheit massiv gesunken ist. Dummerweise funktionieren die Werkzeuge der Vergangenheit heute nicht mehr.
Mehr Bildung wird als Universalheilmittel gegen Ungleichheit empfohlen. Was sagen Sie dazu?
Im Westen war dies nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich der Fall. Die Anzahl der Schuljahre wurde überall sukzessiv erhöht. Jetzt sind wir bei 14 Jahren, es gibt nicht mehr viel Spielraum nach oben.
Was ist mit mehr Umverteilung dank höheren Steuern?
Auch hier ist der Spielraum begrenzt. Niemand ist heute mehr bereit, mehr als die Hälfte seines Einkommens dem Fiskus abzuliefern.
Warum arbeiten wir nicht weniger, wenn Maschinen uns die Arbeit abnehmen?
Die Idee ist einleuchtend, aber ich bin skeptisch, ob sie sich auch umsetzen lässt. Unser Wirtschaftssystem beruht auf Erfolg. Viel Geld zu verdienen ist nach wie vor ein primäres Ziel. Daher dürfte es sehr schwierig sein, nun zu sagen: Okay, lasst uns weniger arbeiten, dafür schränken wir unseren Konsum ein und gehen dafür mehr ins Museum oder ins Theater.
Der legendäre Ökonom John Maynard Keynes hat dies schon vor beinahe 100 Jahren vorgeschlagen.
Ja, aber er ist davon ausgegangen, dass Menschen beschränkte Bedürfnisse haben. Heute wissen wir, dass dies nicht der Fall ist.
Wer an unbegrenztes Wachstum auf einem begrenzten Planeten glaubt, ist entweder ein Idiot – oder ein Ökonom, heisst es. Was halten sie von ökologischen Grenzen?
Der Spruch tönt gut. Doch der Kapitalismus ist so erfolgreich geworden, dass sich bald jeder Mensch als sein eigenes Unternehmen fühlt. Wir wollen lange arbeiten, um uns schöne Dinge leisten zu können. Was die Umwelt betrifft: Ich bin optimistisch, dass es uns gelingen wird, die ökologischen Probleme mit technischen Mitteln in den Griff zu bekommen.