Hexen und Hexer – das sind nicht nur Begriffe aus den düsteren, aber längst überwundenen Tagen des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, als nahezu überall in Europa die Scheiterhaufen loderten. Dass bestimmte Menschen als Hexe oder Hexer gebrandmarkt werden, das gibt es heute noch in manchen Teilen der Welt – auch wenn die Ausgrenzung nicht immer mit der physischen Vernichtung der Opfer enden muss.
Eine Feldstudie in Südwestchina hat nun aufgezeigt, wie und warum es zu dieser Brandmarkung kommt. Die Anthropologin Ruth Mace vom University College London und ihr britisch-chinesisches Team untersuchten fünf Dörfer mit insgesamt rund 800 Haushalten in einer ländlichen Gegend der Provinz Sichuan, wo Hexenglaube noch verbreitet ist.
Dort analysierten die Forscher während dreier Jahre die sozialen Netzwerke innerhalb der Gemeinschaften – sie untersuchten Verwandschafts-, Freundschafts- und Geschäftsbeziehungen. Ein überraschender Befund der Studie, die im Fachblatt «Nature Human Behaviour» publiziert wurde: Nicht weniger als 13 Prozent der Einwohner – ein auffallend hoher Anteil – galten als «Zhu» oder «Zhubo» (örtlicher Dialekt für «Hexe»).
Das Stigma – das von Generation zu Generation übertragen wird – trifft mehr Haushalte, die von Frauen geführt werden. In der Provinz Sichuan fungieren ohnehin traditionell Frauen als Familienoberhaupt. Die stigmatisierten Haushalte waren erstaunlicherweise auch geringfügig wohlhabender als die anderen.
Die Dorfbewohner sprachen den als Zhu apostrophierten Personen übernatürliche Fähigkeiten zu und verdächtigten sie, Wasser oder Lebensmittel zu vergiften. Die Wissenschaftler wurden davor gewarnt, in den Zhu-Haushalten zu essen. Zudem wurden die Zhu-Familien weitgehend vom sozialen Leben im Dorf ausgeschlossen, wie die Anthropologen beobachten konnten.
So wurden keine Geschenke zwischen Zhu-Familien und Nicht-Zhu-Familien ausgetauscht; kaum ein Mitglied einer Zhu-Familie arbeitete je auf einem Feld eines Nicht-Zhu-Bauern. Dafür unterhielten die Mitglieder der verschiedenen Zhu-Familien intensive Kontakte untereinander. Die enge Kooperation unter den Zhu-Familien war offenbar ein Mittel, wie die Forscher betonen, «die Kosten der sozialen Exklusion von den sonstigen sozialen Netzwerken zu minimieren».
Diese Apartheid erstreckte sich auch auf das Gebiet der sexuellen Beziehungen. Zhu-Frauen wählten ihre Partner nahezu ausschliesslich aus der Untergruppe der Zhu-Familien, und dasselbe galt umgekehrt für die Nicht-Zhu.
Niemand aus der Dorfbevölkerung konnte den Wissenschaftlern sagen, wie und warum das Stigma entstand und warum es bestimmte Familien traf. «Niemand gibt zu, solche Gerüchte in die Welt zu setzen», erklärte Mace. «Sogar die Opfer wissen nicht immer, dass man sie angeschuldigt hat – sie merken einfach, dass man ihnen aus dem Weg geht.»
Die Forscher vermuten indes, dass die Praxis der Stigmatisierung als Hexe auf die Rivalität der Haushalte untereinander zurückgeht, die um sozialen Status und Ressourcen konkurrieren. Dagegen erteilen sie der Hypothese eine Absage, wonach die Ausgrenzung bestimmter Personen eine Strafe dafür sei, dass sich diese nicht an in der Gemeinschaft geltende soziale Normen gehalten hätten. Die Bestrafung dieser Leute diene der Disziplinierung der anderen, die sich dann eher an die Normen halten würden, um nicht selber vom Stigma getroffen zu werden.
Dem sei nicht so, betonen die Wissenschaftler. Schon frühere Studien hätten gezeigt, dass die Stigmatisierung von Personengruppen als Hexe in einer Gemeinschaft mehr sozialen Schaden als Nutzen anrichte. Die Denunziationen schaffen ein Klima des Misstrauens und schaden so den Bindungen zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft, statt diese zu stärken.
Die als Zhu bezeichneten Menschen im Südwesten Chinas sind allerdings nicht deckungsgleich mit den Hexen, die besonders in der Frühen Neuzeit in Europa auf das Grausamste verfolgt wurden. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten: Meistens handelt es sich bei den stigmatisierten Personen um Frauen mittleren Alters. Den Opfern wird Zauberei vorgeworfen; oft kommt die Anschuldigung der Vergiftung hinzu.
Die Situation in der Provinz Sichuan könnte zudem davon bestimmt sein, dass hier eine eher patriarchal organisierte Institution – der Buddhismus – auf matriarchale Gesellschaftsstrukturen trifft und diese zu überformen versucht. In den Dörfern Sichuans sind die sozialen Strukturen eher von Frauen bestimmt – sie sind daher auch vornehmlich die Opfer.
(dhr)