Im November konnten Wissenschaftler in Südafrika eine neue Variante des Coronavirus SARS-CoV-2 nachweisen, die von der WHO wie bereits die derzeit vorherrschende Delta-Variante als «besorgniserregend» eingestuft wurde. Die B1.1.529-Variante, die seit dem 26. November offiziell Omikron heisst, weist im Vergleich zum Wildtyp des Virus mehr als 30 Mutationen am Spike-Protein auf, mit dem das Virus in menschliche Zellen eindringt.
Es sind diese Mutationen, die den Fachleuten Sorgen bereiten. Viele der Veränderungen sind relevant für die Umgehung des Immunschutzes und die Übertragbarkeit des Virus, von anderen sind die Auswirkungen noch unbekannt. Die Virologen befürchten daher, dass die neue Variante noch ansteckender sein könnte als Delta, dass die Impfstoffe gegen sie weniger wirksam sein könnten und bereits vorhandene Antikörper womöglich weniger gut vor ihr schützen. Noch ist die Datenlage aber zu dünn, um verlässliche Aussagen zu machen; erst in etwa zwei, drei Wochen wird man mehr wissen.
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Dass ein Virus mutiert, ist normal. Das gilt auch für SARS-CoV-2, bei dem durchschnittlich etwa zwei Varianten pro Monat entstehen und das mithin eher langsamer mutiert als etwa das HI-Virus oder der Influenza-B-Erreger. Wie aber kommt es dazu, dass Viren mutieren – und wie entdecken die Forscher diese Veränderungen im Erbgut der Erreger?
Wenn ein Virus in eine Zelle eindringt, programmiert es diese um und bringt sie dazu, massenweise neue Viren zu produzieren – bis zu 10'000 pro Zelle. Dabei wird das virale Erbgut kopiert, das im Falle von SARS-CoV-2 aus rund 30'000 RNA-Nukleotiden besteht (Nukleotide sind die Grundbausteine der RNA und DNA). Unter den RNA-Viren ist dies das längste Genom. Zum Vergleich: HIV besitzt 10'000 Nukleotide, Influenza 14'000.
Dieser tausendfache Kopiervorgang ist allerdings fehlerbehaftet, und zwar umso mehr, je länger das Genom ist: Es entstehen laufend kleine, zufällige Veränderungen der genetischen Information, sogenannte Punktmutationen. Da jeweils drei Nukleotide (Codons) für eine Aminosäure codieren und zudem mehrere Codons für dieselbe Aminosäure zuständig sind, muss sich nicht jede Punktmutation in einer veränderten Aminosäure manifestieren – es handelt sich dann um eine stille Mutation. Und auch wenn die Mutation zu einer veränderten Aminosäure führt, muss sich dies nicht unbedingt auf deren Funktion und die Funktion des Proteins auswirken, das diese Aminosäure enthält. In einigen Fällen geschieht das jedoch – und das Virus verändert sich.
Auch andere Mutationsformen sind möglich, bei denen grössere Bereiche des Erbguts verändert sind – zum Beispiel Rekombinationen. Diese können zustande kommen, wenn nach einer Mehrfachinfektion Viren verschiedener Stämme innerhalb einer Zelle vorhanden sind und beim Kopiervorgang miteinander kombiniert werden. Auf diese Weise können ganze Regionen des Genoms verändert werden. Dass SARS-CoV-2 trotz der Länge seines Genoms vergleichsweise langsam mutiert, liegt daran, dass es – einzigartig für ein RNA-Virus – über eine Art Reparaturmechanismus verfügt, der die Mutationsrate bremst.
Ein genetisch verändertes Virus vererbt die Mutation – sofern sie seine Funktion nicht beeinträchtigt – beim nächsten Kopiervorgang an die folgende Virengeneration. Die allermeisten Mutationen sind bedeutungslos, denn sie erfolgen nicht zielgerichtet, sondern völlig zufällig. Einige wenige bewirken jedoch neue Eigenschaften des Virus – die sich wiederum auf das Infektionsgeschehen auswirken können.
Letzteres ist der Fall, wenn die neuen Eigenschaften das Virus erfolgreicher machen – wobei «erfolgreich» hier schlicht bedeutet, dass sich das Virus stärker vermehren kann. Für SARS-CoV-2 gibt es im Grundsatz zwei verschiedene Wege, die zu diesem Ziel führen: Zum einen erleichtern es die Veränderungen dem Virus, in die menschliche Zelle einzudringen, zum andern ermöglichen sie es ihm, nicht vom Immunsystem entdeckt zu werden.
Die Veränderungen, die den Zelleintritt begünstigen, finden vornehmlich innerhalb der sogenannten Rezeptor-Bindungsdomäne (RBD) des Spike-Proteins statt. Die Oberfläche dieses Proteins passt wie ein Schlüssel zu den ACE2-Rezeptoren der menschlichen Zellen; je besser der Schlüssel passt, desto leichter können Viruspartikel in die Zelle eindringen. Dies macht das Virus ansteckender.
Andere Mutationen, sogenannte Escape-Mutationen, können dazu führen, dass sich die äussere Gestalt des Virus so verändert, dass die spezifische Oberfläche der Antikörper des Immunsystems – die nach einer vorherigen Infektion oder nach einer Impfung gebildet wurden – nicht mehr zur Oberfläche des Virus passt. Die entsprechenden Antikörper können dann nicht mehr an das Virus andocken und es neutralisieren. Anders ausgedrückt: Die Antikörper erkennen das Virus nicht mehr.
Je mehr Infektionsfälle auftreten, desto stärker vermehrt sich das Virus. Mehr Viren bedeuten mehr Mutationen. Wenn sich eine solche neue Mutation als vorteilhaft erweist, beispielsweise indem sie die Übertragbarkeit des Virus verstärkt, vermehren sich davon betroffene Viren stärker und können andere Varianten verdrängen. Dies war bei der Delta-Variante der Fall, die mittlerweile weltweit verbreitet ist.
Langfristig können Mutationen im Zuge einer Co-Evolution dazu führen, dass sich das Virus an den Wirt anpasst. Die Abwehrmassnahmen des Immunsystems üben einen Selektionsdruck auf das Virus aus; dadurch vermehren sich Mutationen stärker, die für dieses Umfeld vorteilhaft sind. Das Virus kann dann lange unerkannt im Körper existieren, bevor die Krankheit ausbricht. In manchen Fällen, etwa bei Herpesviren, ist dann auch die Krankheit vergleichsweise mild. Für ein Virus ist es nicht vorteilhaft, wenn der Wirt schwer erkrankt und eventuell schnell stirbt, da es sich dann weniger gut verbreiten kann.
Besonders gefährlich für den Menschen sind deshalb oft zoonotische Viren, die von Tieren auf den Menschen überspringen – so auch das Coronavirus. Sie sind hervorragend an ihren ursprünglichen Wirt angepasst, aber beim Menschen reagiert das Immunsystem sehr stark auf den neuen Eindringling. Die zum Teil überschiessende Immunantwort kann dann zu schweren Krankheitsverläufen führen. Mutationen des Virus, die zu einer verbesserten Anpassung an den Wirt führen, sind deshalb nicht per se negativ.
Die Analyse der Mutationen eines Virus ermöglicht es, dessen Entwicklung und Ausbreitung zu verfolgen, sowohl international wie regional. Sie trägt dazu bei, eine Epidemie oder Pandemie zu überwachen, neue Infektionsherde zu erkennen und die Übertragungswege des Virus besser zu verstehen. Dies erleichtert die Anwendung von gezielten Massnahmen zur Bekämpfung einer Pandemie. Zudem dient die Analyse dazu, mögliche neue Varianten aufzuspüren und zu erforschen sowie deren Einfluss auf das Infektionsgeschehen, die Diagnostikmethoden und mögliche Therapien abzuschätzen.
Um das virale Erbgut umfassend zu entschlüsseln, wird eine sequenzierende Genomanalyse vorgenommen. Bei SARS-CoV-2 muss dazu die Abfolge (Sequenz) von rund 30'000 Nukleotiden ermittelt werden. Im Vergleich mit dem ursprünglichen Wildtyp von SARS-CoV-2 lassen sich dann einzelne Mutationen auf Molekülebene erkennen, und dies ermöglicht die Zuordnung der Variante innerhalb des Stammbaums des Erregers.
Damit das Genmaterial sequenziert werden kann, muss zunächst die Virus-RNA aus den positiven Proben herausgelöst und vervielfältigt werden. Der Vorgang erfolgt voll automatisiert auf einer sogenannten Sequenzierplattform. Es gibt mittlerweile eine Reihe verschiedener Verfahren, um die Sequenzinformation von einem RNA- oder DNA-Molekül abzulesen; sie alle sind komplex und sowohl zeit- wie kostenaufwändig. Dies bedeutet, dass längst nicht alle positiven Proben sequenziert werden können, sondern lediglich Stichproben. Fünf bis zehn Prozent der Proben sollten dabei für einen Überblick genügen.
In der Schweiz erfasst die vom Schweizerischen Institut für Bioinformatik (SIB) co-geleitete Swiss Pathogen Surveillance Platform die national gesammelten genetischen Sequenzen des Coronavirus zentral und übermittelt ihren Überwachungsbericht dreimal wöchentlich an das BAG. Dies ermöglicht den Behörden einen Überblick über die Verteilung der Varianten im Land.
Die vollständig anonymisierten Virussequenzen fliessen auch in internationale Datenbanken ein, die für die Erforschung des Virus genutzt werden. Dazu zählt auch die Plattform Nextstrain, die die Daten in Form sogenannter phylogenetischer Bäume visuell aufbereitet und überdies Hintergrundinformationen zur genomischen Epidemiologie bietet. Einen visuell aufbereiteten Überblick über die Verbreitung der SARS-CoV-2-Varianten in der Schweiz bietet zudem die Plattform cov-spectrum.ethz.ch.
Ich für meinen Teil bin masdiv überfordert und vertraue deshalb all den Experten, die hier den Durchblick haben.