Wer liebt sie nicht, die einfachen Antworten auf komplexe Fragen? Und wenn es dabei auch noch um die sympathischsten Kobolde unserer Fauna – um Murmeltiere – geht, ist das Medienecho gewiss. So stiessen aktuelle Resultate einer Langzeitstudie der WSL (Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft) mit einer einfachen Aussage in den nationalen und internationalen News auf breites Interesse: Wegen der Klimaerwärmung müssen Alpenmurmeltiere im Gebirge gegen 90 Meter bergauf ziehen oder schärfer formuliert: Sie flüchten vor der Hitze in die Höhe. Auch watson übernahm die Agenturmeldung. Doch wie ist dieser Befund einzuordnen?
Was auf den ersten Blick als aktuelle, schlechte Nachricht für die herzigen Murmeli erscheint, entpuppt sich als atemberaubende Story, die Jahrmillionen vor dieser Studie begann. Murmeltiere sind buchstäblich uralt. Die ersten Fossilien, die ihrer Familie zugeordnet werden, reichen 16 Millionen Jahre in die Epoche des Miozäns zurück. Die kleinen Kerle, die wie Märchenzwerge aufrecht stehen und in der Erde wohnen, haben sich in ihrer bewegten Geschichte in Grösse, Eigenschaften und Lebensweise kaum verändert und verkörpern damit ein eigentliches Erfolgsmodell der Evolution.
Eine neue genetische Untersuchung, die 2023 publiziert wurde, bestätigte, dass die Murmeltierverwandtschaft ursprünglich aus Nordamerika stammt. Innerhalb von Jahrmillionen (Spoiler: Man stelle sich dabei als Minimenschlein die unvorstellbare Dauer von «nur» einer Million Jahren vor …) hatten die Vorfahren der heutigen Murmeltiere in verschiedenen Arten mehrmals die Landbrücke der Beringstrasse zwischen Alaska in Amerika und Tschukotka in Asien hin und her überquert und sich von dort über den nördlichen Teil Asiens bis nach Europa verbreitet.
Die Geschichte der Spezies, des Alpenmurmeltieres (Marmota marmota), das wir alle kennen, reicht in der Schweiz mehrere Zehntausend Jahre zurück. Aus der Zeit vor «nur» etwa 45'000 Jahren fand man etwa in der Schalenbergfelshöhle bei Arlesheim BL, also auf etwa 470 Meter über Meer, in den Bodenschichten eines Siedlungsplatzes steinzeitlicher Jägerfamilien Überreste von Murmeltieren, die sie erbeutet hatten – neben den Knochen von Rentieren, Hyänen, Polarfüchsen, Steinböcken und Gämsen.
In der damaligen Würm-Eiszeit siedelten die Menschen in der Nähe der Gletscher, die weite Teile der Schweiz mit einer kilometerdicken Eisdecke überzogen hatten – etwas, was man sich heute kaum vorstellen kann. Auch 30'000 Jahre später, als das Eis zu schmelzen begann und die Gletscher ihren Rückzug antraten, etwa um 12'500 vor heute, jagten Menschen etwa am Ufer des Neuenburgersees immer noch Murmeltiere in bedeutender Zahl. Das verrieten Funde in einem anderen Jagdlager am Ufer des Sees.
Das Temperaturmittel im Juli betrug dort am Ende der letzten Eiszeit 12 °C gegenüber 16 °C heute. Der Spiegel des Sees am Fuss der Jurakette liegt auf 430 m ü. M. Auch damals lebten die Murmeltiere also immer noch im Flachland oder wenig höher an den nahen Jurahängen. In den hoch gelegenen und damit kalten Steppen Zentralasiens besiedeln die dortigen Murmeltierarten bis heute weitläufige Ebenen mit endlosen Horizonten. Doch wie kamen sie bei uns und anderswo ins Gebirge?
Um etwa 10'000 Jahre vor heute setzte eine gewaltige Klimaerwärmung ein. Ein dramatischer Rückzug der eiszeitlichen Gletscher war die Folge. Durch das Abschmelzen der Land-Eismassen in den Polargebieten und in den kontinentalen Gebirgen wie den Alpen stieg der Meeresspiegel zwischen 14'000 und 6500 Jahren vor heute weltweit um 110 Meter und überflutete riesige Küstengebiete.
Die verschiedenen Arten von Murmeltieren – heute sind es weltweit noch 15 – hatten sich auf der Nordhalbkugel während Jahrmillionen hervorragend an die eiszeitlichen Verhältnisse angepasst und waren weit verbreitet. Den unglaublich harten, eisigen Wintern, in denen es keinerlei frische Pflanzennahrung gab, schlugen sie seit jeher ein Schnippchen, indem sie die kalten Monate einfach unter der Erde verschlafen. Die dazu notwendigen Höhlen und Gangsysteme, die mehrere Meter unter den Boden führen können, buddeln sie während der warmen Jahreszeit selbst.
Zudem haben einige Arten der possierlichen Nager ein ausgeklügeltes Sozialverhalten entwickelt: Bei diesen wie etwa beim Alpenmurmeltier hängt das Überleben der Jungen während des Winterschlafs massgebend von älteren Familienmitgliedern ab, von den Eltern und auch von älteren Geschwistern, den vorjährigen Jungen. Die Grösseren wärmen die Kleinen während des Winterschlafs, eine lebensnotwendige Unterstützung, die oft über Sein und Nichtsein bestimmt.
Der sechsmonatige Schlaf in der gut abgedichteten Winterhöhle folgt einem komplizierten Rhythmus von Tiefschlaf und kurzen Wachphasen, in denen die Winterschläfer aus dem dicht gepackten Schlafknäuel der Familie in die Seitengänge zum Pinkeln austreten. Gegen Ende des Winters erwachen die fortpflanzungsbereiten Männchen zuerst und nutzen bereits unter dem Boden keck die Schlaftrunkenheit der Weibchen aus, um sich mit ihnen zu paaren.
In ihrer ganzen Lebensweise – bis hin zum Verzehr spezieller Pflanzen, die durch deren Gehalt an Linolsäure die Kältetoleranz des Organismus im Winterschlaf erhöhen – hatten die kleinen Höhlenbewohner seit dem Beginn ihrer Geschichte den harschen Verhältnissen der Eiszeit getrotzt. So sehr, dass sie nunmehr von der Kälte abhängig sind. Als die Lebensräume immer wärmer wurden, blieb ihnen nichts anderes übrig, als den schmelzenden Gletschern und damit den kühlen Temperaturen in höhere Lagen zu folgen.
Somit ist der heutige Rückzug der Alpenmurmeltiere um weitere knapp 90 Meter hangaufwärts nur ein weiterer, kleiner Schritt in einem Prozess, der bereits seit einigen Tausend Jahren anhält. Dabei ist für die Murmeltiere eine dicke Schneedecke entscheidend, die die Winterhöhlen gegen allzu tiefe Temperaturen abschirmt. Liegt wenig Schnee, wird es bis tief in den Boden für die Murmeltiere zu kalt. Also bleibt ihnen nichts anderes, als weiter bergwärts zu ziehen, wo noch genügend Schnee liegt.
Die präzisen Daten in der aktuellen WSL-Studie stammen von einer Population im Dischmatal bei Davos, bei der innerhalb von 40 Jahren eine Bewegung hangaufwärts beobachtet wurde. Eine ähnliche Studie von 2020 aus den Rocky Mountains in Colorado, USA, wo Gelbbauchmurmeltiere (Marmota flaviventris) leben, bestätigte denselben Trend wie bei unseren Alpenmurmeltieren.
Die amerikanischen Verwandten besiedeln nicht wie in Europa Höhenlagen von 1000 bis 3000 Meter, sondern Berghänge von 3000 bis 5000 Meter über Meer, wo ihnen für die Aktivität im Sommer noch weniger Zeit zur Verfügung steht als unseren Munggen, wie sie oft liebevoll im Dialekt genannt werden: Nicht sechs, sondern lediglich vier wärmere Monate erlauben dort die Aktivität über dem Boden. Unglaubliche acht Monate des Jahres verschlafen die Amerikaner unter Tag.
Doch nicht nur in den immer wärmeren Wintern, sondern auch im Sommer macht die Klimakrise den Murmeltieren zu schaffen. Wird es zu warm, sind sie der Sommerhitze schutzlos ausgeliefert, da sie keine körpereigenen Mechanismen haben, um sich abzukühlen. So was brauchte es in der Eiszeit nicht! Dadurch bleibt ihnen heute nichts anderes übrig, als die heissen Tage im kühlen Bau zu verbringen, anstatt draussen ordentlich zu fressen. Dauern Hitzeperioden länger, fehlen ihnen dann diese unfreiwilligen Ruhetage in der Sommerbilanz – je mehr es sind, desto mehr Auswirkungen hat dies auf die Überlebensquote der Jungen im Winterschlaf.
Bekommen die grösseren Individuen der Familie im Sommer infolge der Wärme oder auch wegen allzu vieler Regentage nicht genügend Nahrung, haben auch sie weniger Überlebenschancen und fehlen dann in den folgenden Wintern im Wärmungsteam für die ganz Kleinen im Winterschlaf. Deshalb müssen alle Murmeltiere in der warmen Jahreszeit gehörig futtern, um sich eine dicke Fettschicht für den Winterschlaf zuzulegen: als Kälte-Isolation in den Schlafphasen und auch für den kargen Frühling, der nach der Überwinterung für die Erwachsenen mit turbulenten Wochen beginnt.
In dieser frühen Aktivitätszeit nach dem Winterschlaf verbrauchen sie ihr letztes Fett, wenn es um die Fortpflanzung und die Revierverteidigung geht. Dann denkt kein erwachsenes Murmeltier ans Essen. Das macht durchaus Sinn, denn meist liegt dann noch so viel Schnee, dass sie eh kaum frische Pflanzentriebe als Nahrung finden.
Im komplizierten Gefüge der Anpassungen der Alpenmurmeltiere an die ursprünglich eiszeitlichen Verhältnisse gibt es viele weitere faszinierende Einzelheiten, dank derer die Murmeltiere bis heute überlebten: etwa das Wechselspiel mit ihren natürlichen Fressfeinden, den Prädatoren. Für Steinadler, Füchse, Luchse und Wölfe und manchmal auch Bären, die sie mit ihren sprichwörtlichen Kräften selbst aus ihren tiefen Bauen im Boden ausgraben können, spielen sie im Ökosystem der Berge eine wichtige Rolle als Beutetiere.
Auch da haben die robusten Nager buchstäblich pfiffige Strategien entwickelt, um zu überleben. Wenn’s gefährlich wird, verschwinden sie flugs in ihren Höhlen unter dem Boden. Murmeltiere sind ausserordentlich wachsam. Dazu passen ihre weitsichtigen Alarmsysteme. Je nach Feind haben die Munggen spezielle Warnrufe entwickelt.
Serien kurzer, spitzer Schreie hintereinander, die wir Menschen als Pfiffe wahrnehmen, warnen vor einem Bodenfeind. Wer sich in den Bergen im Sommer einer solchen Kolonie nähert, kennt den weit hallenden «Empfang» – umso mehr, wenn ein Hund dabei ist. Wenn ein Feind, etwa ein Fuchs, von einem Wachposten entdeckt ist, hat er kaum mehr eine Chance, ein Murmeltier zu erbeuten.
Im Schweizerischen Nationalpark konnten wir eine solche Szene filmen, wie ein Fuchs von mehreren Murmeltieren, die aufrecht auf ihren Erdhügeln über ihren Löchern standen, regelrecht ausgepfiffen wurde. Der Fuchs konnte sich nur noch verschämt davonmachen. Seine Körperhaltung verriet dabei, dass er sich wohl echt «angepisst» fühlte.
Im Gegensatz zu den wiederholten Warnsignalen bei Bodenfeinden warnen Murmeltiere ihre Artgenossen in der Kolonie durch einen einzigen, scharfen Pfiff, wenn am Himmel ein grösseres Flugobjekt auftaucht. Ist es ein Steinadler, gilt es für alle Munggen, die sich im Freien aufhalten, keine Sekunde zu verlieren und so schnell wie möglich im nächsten Bau zu verschwinden.
Der Alarm wird oft auch bei anderen grossen Vögeln wie tief fliegenden Bart- oder Gänsegeiern ausgelöst, die für sie keine Gefahr bedeuten. Auch Gleitschirm- oder Deltaflieger und neuerdings auch Drohnen, mit denen sich Menschen vergnügen, lösen diese speziellen Alarmpfiffe vor Feinden aus der Luft aus, bei denen fast alle Munggen im Freien sofort in die Löcher spurten.
Die Schülerin Sarah Marmorosch aus Thun konnte 2024 in einer «Schweizer Jugend forscht»-Arbeit nachweisen, dass Murmeltiere bei ihren Pfiffen regionale «Dialekte» haben. Verschiedene Populationen in einer gewissen Distanz zueinander stossen unterschiedliche Pfiffe aus, die sich in kleinen Details unterscheiden. Wir Menschen hören das nicht, aber im Frequenzdiagramm der aufgezeichneten Töne wurden solche Unterschiede erkennbar.
Die Beobachtung von örtlichen Unterschieden in den Warnpfiffen der Murmeltiere geben einen Hinweis auf ein weiteres Problem, dem sich die kälteangepassten Nager gegenübersehen: Die Isolation einzelner Populationen, die keinen genetischen Austausch mehr mit anderen Artgenossen haben, führt zur Entwicklung einzigartiger Eigenschaften, die nur noch für einen bestimmten Ort typisch sind.
Mit dem Rückzug des kühlen Klimas und damit der Gletscher in die Höhenlagen verschiedener Bergmassive gingen zusammenhängende Siedlungsgebiete für die Munggen im Flachland verloren. Dadurch wurden die Murmeltierpopulationen immer weiter auf den «Kälteinseln» der Gebirge isoliert. Weite Gebiete in geringer Meereshöhe wurden für sie unpassierbar, so dass ein grossräumiger Austausch von Individuen zwischen den Populationsinseln in den Bergen unmöglich wurde. Dies führte auf den jeweiligen Kälteinseln zu starker Inzucht und geringem Austausch der Gene.
Bisher galt uneingeschränkt, dass die Vielfalt der Gene innerhalb einer Spezies darüber entscheidet, welche Eigenschaften als Anpassung mobilisiert werden können, wenn sich die Umweltverhältnisse – wie etwa mit der gegenwärtigen, sehr schnellen Klimaerwärmung – verändern. Dann ist Vielfalt im Erbgut gefragt: Stehen Gene bereit, die sich für eine Anpassung an die neue Lage eignen? Bis jetzt galt: je mehr und vielfältiger, desto besser. Doch auch da scheinen die Alpenmurmeltiere aufgrund ihrer Geschichte schlechte Karten zu haben. Sie gehören zu den Säugetierarten mit der geringsten genetischen Variabilität. Aber ist das wirklich so gravierend?
Der Forschungszweig der Epigenetik, der zurzeit in einem enormen Boom der Wissenschaft viele neue, unerwartete Kenntnisse hervorbringt, sorgt vielleicht auch bei den Murmeltieren für Überraschungen. Bei epigenetischen Prozessen können Pflanzen- oder Tierarten – inklusive uns Menschen – ihr Verhalten oder ihre Eigenschaften im Organismus sehr schnell an neue Verhältnisse anpassen, ohne dass es dazu zwingend zeitraubende Mutationen der Gene und deren Auslese braucht, damit sich eine Spezies an neue Verhältnisse anpassen kann.
Viel schneller wirken epigenetische Mechanismen, die durch bestimmte Moleküle die bestehenden Gene beeinflussen und situationsgerecht steuern können, indem sie das Zusammenspiel einzelner Erbfaktoren neu kombinieren oder sie einfach stummschalten. Und genialerweise können manche dieser Steuermoleküle über Generationen weitervererbt werden, sodass eine erworbene, epigenetische Eigenschaft, die vorteilhaft ist, bestehen bleibt. Gerade bei Nagetieren hat man in diesem Bereich Erstaunliches beobachtet. Insofern ist durchaus möglich, dass bei Anpassungsvorgängen auch bei Murmeltieren noch andere Mechanismen als die Variabilität der Gene zum Vorschein kommen und die weitere Entwicklung mitbestimmen.
Vielleicht aber geht doch die uralte Evolutionsgeschichte der Alpenmurmeltiere durch die menschengemachte Klimaerwärmung ihrem Ende entgegen. Wenn sich die Umweltbedingungen verändern, müssen sich alle betroffenen Arten durch verschiedenste Mechanismen der Genetik und Epigenetik an die neuen Verhältnisse anpassen. Schaffen sie das nicht, sterben sie aus. Vielleicht überlebt ein Teil ihres Erbes in neuen Spezies, die sich entwickeln, die besser angepasst den Platz ihrer Vorgänger einnehmen. Vielleicht auch nicht. All das ist an sich ein natürlicher Prozess, der sich in der Geschichte des Lebens seit unendlicher Zeit wiederholt: Arten von Lebewesen kommen und sterben wieder aus – ein Prozess, der nie stillsteht, solange es auf diesem Planeten das universale Wunder des Lebens gibt.
Danke Andreas Moser für den ausführlichen Artikel.