Wissen
Tier

Murmeltiere und Klimaerwärmung: Höher, bis es nicht mehr geht?

Murmeltier
(Achtung: Ausschliesslich zu verwenden für den Artikel: Murmeltiere: Höher, bis es nicht mehr geht?)
Bild ab Video: Jost Schneider

Murmeltiere: Höher, bis es nicht mehr geht?

Treibt die Klimaerwärmung die Wildtiere in den Alpen tatsächlich immer weiter in kühlere Höhenlagen, bis es nicht mehr geht? Eine neue Publikation über Murmeltiere liefert erstaunliche Antworten. Dazu die Hintergründe. Diese sind auch für uns Menschen von Bedeutung.
02.08.2025, 17:0102.08.2025, 18:39
Andreas Moser
Andreas Moser
Mehr «Wissen»
Kältefreaks: Früher am Rande eiszeitlicher Gletscher, heute immer höher. Murmeltiere weichen der Hitze aus.
(Achtung: Ausschliesslich zu verwenden für den Artikel: Murmeltiere: Höher, bis es nicht meh ...
Kältefreaks: Früher am Rande eiszeitlicher Gletscher, heute immer höher. Murmeltiere weichen der Hitze aus.Bild ab Video: Jost Schneider

Wer liebt sie nicht, die einfachen Antworten auf komplexe Fragen? Und wenn es dabei auch noch um die sympathischsten Kobolde unserer Fauna – um Murmeltiere – geht, ist das Medienecho gewiss. So stiessen aktuelle Resultate einer Langzeitstudie der WSL (Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft) mit einer einfachen Aussage in den nationalen und internationalen News auf breites Interesse: Wegen der Klimaerwärmung müssen Alpenmurmeltiere im Gebirge gegen 90 Meter bergauf ziehen oder schärfer formuliert: Sie flüchten vor der Hitze in die Höhe. Auch watson übernahm die Agenturmeldung. Doch wie ist dieser Befund einzuordnen?

Dünne Decke: Weniger Schnee im Winter isoliert die Erdbaue im Winter nicht mehr genügend, sodass die Kälte zu den Winterschläfern durchdringt. Deshalb müssen Murmeltiere in höhere Lagen ausweichen, wo ...
Dünne Decke: Weniger Schnee im Winter isoliert die Erdbaue im Winter nicht mehr genügend, sodass die Kälte zu den Winterschläfern durchdringt. Deshalb müssen Murmeltiere in höhere Lagen ausweichen, wo es mehr Schnee gibt.Bild ab Video: Jost Schneider

Eine uralte Geschichte

Was auf den ersten Blick als aktuelle, schlechte Nachricht für die herzigen Murmeli erscheint, entpuppt sich als atemberaubende Story, die Jahrmillionen vor dieser Studie begann. Murmeltiere sind buchstäblich uralt. Die ersten Fossilien, die ihrer Familie zugeordnet werden, reichen 16 Millionen Jahre in die Epoche des Miozäns zurück. Die kleinen Kerle, die wie Märchenzwerge aufrecht stehen und in der Erde wohnen, haben sich in ihrer bewegten Geschichte in Grösse, Eigenschaften und Lebensweise kaum verändert und verkörpern damit ein eigentliches Erfolgsmodell der Evolution.

Eine neue genetische Untersuchung, die 2023 publiziert wurde, bestätigte, dass die Murmeltierverwandtschaft ursprünglich aus Nordamerika stammt. Innerhalb von Jahrmillionen (Spoiler: Man stelle sich dabei als Minimenschlein die unvorstellbare Dauer von «nur» einer Million Jahren vor …) hatten die Vorfahren der heutigen Murmeltiere in verschiedenen Arten mehrmals die Landbrücke der Beringstrasse zwischen Alaska in Amerika und Tschukotka in Asien hin und her überquert und sich von dort über den nördlichen Teil Asiens bis nach Europa verbreitet.

Die Geschichte der Spezies, des Alpenmurmeltieres (Marmota marmota), das wir alle kennen, reicht in der Schweiz mehrere Zehntausend Jahre zurück. Aus der Zeit vor «nur» etwa 45'000 Jahren fand man etwa in der Schalenbergfelshöhle bei Arlesheim BL, also auf etwa 470 Meter über Meer, in den Bodenschichten eines Siedlungsplatzes steinzeitlicher Jägerfamilien Überreste von Murmeltieren, die sie erbeutet hatten – neben den Knochen von Rentieren, Hyänen, Polarfüchsen, Steinböcken und Gämsen.

In der damaligen Würm-Eiszeit siedelten die Menschen in der Nähe der Gletscher, die weite Teile der Schweiz mit einer kilometerdicken Eisdecke überzogen hatten – etwas, was man sich heute kaum vorstellen kann. Auch 30'000 Jahre später, als das Eis zu schmelzen begann und die Gletscher ihren Rückzug antraten, etwa um 12'500 vor heute, jagten Menschen etwa am Ufer des Neuenburgersees immer noch Murmeltiere in bedeutender Zahl. Das verrieten Funde in einem anderen Jagdlager am Ufer des Sees.

Das Temperaturmittel im Juli betrug dort am Ende der letzten Eiszeit 12 °C gegenüber 16 °C heute. Der Spiegel des Sees am Fuss der Jurakette liegt auf 430 m ü. M. Auch damals lebten die Murmeltiere also immer noch im Flachland oder wenig höher an den nahen Jurahängen. In den hoch gelegenen und damit kalten Steppen Zentralasiens besiedeln die dortigen Murmeltierarten bis heute weitläufige Ebenen mit endlosen Horizonten. Doch wie kamen sie bei uns und anderswo ins Gebirge?

Um etwa 10'000 Jahre vor heute setzte eine gewaltige Klimaerwärmung ein. Ein dramatischer Rückzug der eiszeitlichen Gletscher war die Folge. Durch das Abschmelzen der Land-Eismassen in den Polargebieten und in den kontinentalen Gebirgen wie den Alpen stieg der Meeresspiegel zwischen 14'000 und 6500 Jahren vor heute weltweit um 110 Meter und überflutete riesige Küstengebiete.

Schlafknäuel: Im dichten Knäuel verschlafen Murmeltiere den Winter tief unter dem Boden. Dabei wärmen die Eltern und die vorjährigen Geschwister die Kleinsten.
(Achtung: Ausschliesslich zu verwenden f ...
Schlafknäuel: Im dichten Knäuel verschlafen Murmeltiere den Winter tief unter dem Boden. Dabei wärmen die Eltern und die vorjährigen Geschwister die Kleinsten.Bild ab Video: Jost Schneider

Tricks gegen Kälte

Die verschiedenen Arten von Murmeltieren – heute sind es weltweit noch 15 – hatten sich auf der Nordhalbkugel während Jahrmillionen hervorragend an die eiszeitlichen Verhältnisse angepasst und waren weit verbreitet. Den unglaublich harten, eisigen Wintern, in denen es keinerlei frische Pflanzennahrung gab, schlugen sie seit jeher ein Schnippchen, indem sie die kalten Monate einfach unter der Erde verschlafen. Die dazu notwendigen Höhlen und Gangsysteme, die mehrere Meter unter den Boden führen können, buddeln sie während der warmen Jahreszeit selbst.

Zudem haben einige Arten der possierlichen Nager ein ausgeklügeltes Sozialverhalten entwickelt: Bei diesen wie etwa beim Alpenmurmeltier hängt das Überleben der Jungen während des Winterschlafs massgebend von älteren Familienmitgliedern ab, von den Eltern und auch von älteren Geschwistern, den vorjährigen Jungen. Die Grösseren wärmen die Kleinen während des Winterschlafs, eine lebensnotwendige Unterstützung, die oft über Sein und Nichtsein bestimmt.

Der sechsmonatige Schlaf in der gut abgedichteten Winterhöhle folgt einem komplizierten Rhythmus von Tiefschlaf und kurzen Wachphasen, in denen die Winterschläfer aus dem dicht gepackten Schlafknäuel der Familie in die Seitengänge zum Pinkeln austreten. Gegen Ende des Winters erwachen die fortpflanzungsbereiten Männchen zuerst und nutzen bereits unter dem Boden keck die Schlaftrunkenheit der Weibchen aus, um sich mit ihnen zu paaren.

Gelegenheit: Gegen Ende des Winterschlafs nutzen Männchen die Schläfrigkeit der Weibchen in der Schlafhöhle zum Sex.
(Achtung: Ausschliesslich zu verwenden für den Artikel: Murmeltiere: Höher, bis es  ...
Gelegenheit: Gegen Ende des Winterschlafs nutzen Männchen die Schläfrigkeit der Weibchen in der Schlafhöhle zum Sex.Bild ab Video: Jost Schneider

Kein Einzelfall

In ihrer ganzen Lebensweise – bis hin zum Verzehr spezieller Pflanzen, die durch deren Gehalt an Linolsäure die Kältetoleranz des Organismus im Winterschlaf erhöhen – hatten die kleinen Höhlenbewohner seit dem Beginn ihrer Geschichte den harschen Verhältnissen der Eiszeit getrotzt. So sehr, dass sie nunmehr von der Kälte abhängig sind. Als die Lebensräume immer wärmer wurden, blieb ihnen nichts anderes übrig, als den schmelzenden Gletschern und damit den kühlen Temperaturen in höhere Lagen zu folgen.

Somit ist der heutige Rückzug der Alpenmurmeltiere um weitere knapp 90 Meter hangaufwärts nur ein weiterer, kleiner Schritt in einem Prozess, der bereits seit einigen Tausend Jahren anhält. Dabei ist für die Murmeltiere eine dicke Schneedecke entscheidend, die die Winterhöhlen gegen allzu tiefe Temperaturen abschirmt. Liegt wenig Schnee, wird es bis tief in den Boden für die Murmeltiere zu kalt. Also bleibt ihnen nichts anderes, als weiter bergwärts zu ziehen, wo noch genügend Schnee liegt.

Die präzisen Daten in der aktuellen WSL-Studie stammen von einer Population im Dischmatal bei Davos, bei der innerhalb von 40 Jahren eine Bewegung hangaufwärts beobachtet wurde. Eine ähnliche Studie von 2020 aus den Rocky Mountains in Colorado, USA, wo Gelbbauchmurmeltiere (Marmota flaviventris) leben, bestätigte denselben Trend wie bei unseren Alpenmurmeltieren.

Die amerikanischen Verwandten besiedeln nicht wie in Europa Höhenlagen von 1000 bis 3000 Meter, sondern Berghänge von 3000 bis 5000 Meter über Meer, wo ihnen für die Aktivität im Sommer noch weniger Zeit zur Verfügung steht als unseren Munggen, wie sie oft liebevoll im Dialekt genannt werden: Nicht sechs, sondern lediglich vier wärmere Monate erlauben dort die Aktivität über dem Boden. Unglaubliche acht Monate des Jahres verschlafen die Amerikaner unter Tag.

Verfressene Gesellschaft: Murmeltiere müssen den ganzen Sommer über eifrig Fett anfressen, um den Winterschlaf und die stressige Frühlingszeit ohne Nahrung zu überstehen.
(Achtung: Ausschliesslich zu  ...
Verfressene Gesellschaft: Murmeltiere müssen den ganzen Sommer über eifrig Fett anfressen, um den Winterschlaf und die stressige Frühlingszeit ohne Nahrung zu überstehen.Bild ab Video: Jost Schneider

Im Sommer Hitzestress

Doch nicht nur in den immer wärmeren Wintern, sondern auch im Sommer macht die Klimakrise den Murmeltieren zu schaffen. Wird es zu warm, sind sie der Sommerhitze schutzlos ausgeliefert, da sie keine körpereigenen Mechanismen haben, um sich abzukühlen. So was brauchte es in der Eiszeit nicht! Dadurch bleibt ihnen heute nichts anderes übrig, als die heissen Tage im kühlen Bau zu verbringen, anstatt draussen ordentlich zu fressen. Dauern Hitzeperioden länger, fehlen ihnen dann diese unfreiwilligen Ruhetage in der Sommerbilanz – je mehr es sind, desto mehr Auswirkungen hat dies auf die Überlebensquote der Jungen im Winterschlaf.

Bekommen die grösseren Individuen der Familie im Sommer infolge der Wärme oder auch wegen allzu vieler Regentage nicht genügend Nahrung, haben auch sie weniger Überlebenschancen und fehlen dann in den folgenden Wintern im Wärmungsteam für die ganz Kleinen im Winterschlaf. Deshalb müssen alle Murmeltiere in der warmen Jahreszeit gehörig futtern, um sich eine dicke Fettschicht für den Winterschlaf zuzulegen: als Kälte-Isolation in den Schlafphasen und auch für den kargen Frühling, der nach der Überwinterung für die Erwachsenen mit turbulenten Wochen beginnt.

In dieser frühen Aktivitätszeit nach dem Winterschlaf verbrauchen sie ihr letztes Fett, wenn es um die Fortpflanzung und die Revierverteidigung geht. Dann denkt kein erwachsenes Murmeltier ans Essen. Das macht durchaus Sinn, denn meist liegt dann noch so viel Schnee, dass sie eh kaum frische Pflanzentriebe als Nahrung finden.

Kampfbereit: Kaum aus dem Winterschlaf erwacht, muss das Revier verteidigt werden.
(Achtung: Ausschliesslich zu verwenden für den Artikel: Murmeltiere: Höher, bis es nicht mehr geht?)
Kampfbereit: Kaum aus dem Winterschlaf erwacht, muss das Revier verteidigt werden.Bild ab Video: Jost Schneider

Feinde auspfeifen

Im komplizierten Gefüge der Anpassungen der Alpenmurmeltiere an die ursprünglich eiszeitlichen Verhältnisse gibt es viele weitere faszinierende Einzelheiten, dank derer die Murmeltiere bis heute überlebten: etwa das Wechselspiel mit ihren natürlichen Fressfeinden, den Prädatoren. Für Steinadler, Füchse, Luchse und Wölfe und manchmal auch Bären, die sie mit ihren sprichwörtlichen Kräften selbst aus ihren tiefen Bauen im Boden ausgraben können, spielen sie im Ökosystem der Berge eine wichtige Rolle als Beutetiere.

Auch da haben die robusten Nager buchstäblich pfiffige Strategien entwickelt, um zu überleben. Wenn’s gefährlich wird, verschwinden sie flugs in ihren Höhlen unter dem Boden. Murmeltiere sind ausserordentlich wachsam. Dazu passen ihre weitsichtigen Alarmsysteme. Je nach Feind haben die Munggen spezielle Warnrufe entwickelt.

Serien kurzer, spitzer Schreie hintereinander, die wir Menschen als Pfiffe wahrnehmen, warnen vor einem Bodenfeind. Wer sich in den Bergen im Sommer einer solchen Kolonie nähert, kennt den weit hallenden «Empfang» – umso mehr, wenn ein Hund dabei ist. Wenn ein Feind, etwa ein Fuchs, von einem Wachposten entdeckt ist, hat er kaum mehr eine Chance, ein Murmeltier zu erbeuten.

Im Schweizerischen Nationalpark konnten wir eine solche Szene filmen, wie ein Fuchs von mehreren Murmeltieren, die aufrecht auf ihren Erdhügeln über ihren Löchern standen, regelrecht ausgepfiffen wurde. Der Fuchs konnte sich nur noch verschämt davonmachen. Seine Körperhaltung verriet dabei, dass er sich wohl echt «angepisst» fühlte.

Ausgepfiffen: Werden Füchse von Murmeltieren entdeckt, werden sie heftig ausgepfiffen. Als Warnung an die Artgenossen und als Belästigung gegen den Feind.
(Achtung: Ausschliesslich zu verwenden für de ...
Ausgepfiffen: Werden Füchse von Murmeltieren entdeckt, werden sie heftig ausgepfiffen. Als Warnung an die Artgenossen und als Belästigung gegen den Feind.Bild ab Video: Jost Schneider

Im Gegensatz zu den wiederholten Warnsignalen bei Bodenfeinden warnen Murmeltiere ihre Artgenossen in der Kolonie durch einen einzigen, scharfen Pfiff, wenn am Himmel ein grösseres Flugobjekt auftaucht. Ist es ein Steinadler, gilt es für alle Munggen, die sich im Freien aufhalten, keine Sekunde zu verlieren und so schnell wie möglich im nächsten Bau zu verschwinden.

Der Alarm wird oft auch bei anderen grossen Vögeln wie tief fliegenden Bart- oder Gänsegeiern ausgelöst, die für sie keine Gefahr bedeuten. Auch Gleitschirm- oder Deltaflieger und neuerdings auch Drohnen, mit denen sich Menschen vergnügen, lösen diese speziellen Alarmpfiffe vor Feinden aus der Luft aus, bei denen fast alle Munggen im Freien sofort in die Löcher spurten.

Pfeifidiome: Verschiedene Murmeltier-Populationen pfeifen in geringfügig unterschiedlichen Frequenzen, was man als lokale «Dialekte» bezeichnen kann.
(Achtung: Ausschliesslich zu verwenden für den Art ...
Pfeifidiome: Verschiedene Murmeltier-Populationen pfeifen in geringfügig unterschiedlichen Frequenzen, was man als lokale «Dialekte» bezeichnen kann.Bild ab Video: Jost Schneider

Dialekte zeigen Isolation

Die Schülerin Sarah Marmorosch aus Thun konnte 2024 in einer «Schweizer Jugend forscht»-Arbeit nachweisen, dass Murmeltiere bei ihren Pfiffen regionale «Dialekte» haben. Verschiedene Populationen in einer gewissen Distanz zueinander stossen unterschiedliche Pfiffe aus, die sich in kleinen Details unterscheiden. Wir Menschen hören das nicht, aber im Frequenzdiagramm der aufgezeichneten Töne wurden solche Unterschiede erkennbar.

Die Beobachtung von örtlichen Unterschieden in den Warnpfiffen der Murmeltiere geben einen Hinweis auf ein weiteres Problem, dem sich die kälteangepassten Nager gegenübersehen: Die Isolation einzelner Populationen, die keinen genetischen Austausch mehr mit anderen Artgenossen haben, führt zur Entwicklung einzigartiger Eigenschaften, die nur noch für einen bestimmten Ort typisch sind.

Mit dem Rückzug des kühlen Klimas und damit der Gletscher in die Höhenlagen verschiedener Bergmassive gingen zusammenhängende Siedlungsgebiete für die Munggen im Flachland verloren. Dadurch wurden die Murmeltierpopulationen immer weiter auf den «Kälteinseln» der Gebirge isoliert. Weite Gebiete in geringer Meereshöhe wurden für sie unpassierbar, so dass ein grossräumiger Austausch von Individuen zwischen den Populationsinseln in den Bergen unmöglich wurde. Dies führte auf den jeweiligen Kälteinseln zu starker Inzucht und geringem Austausch der Gene.

Bisher galt uneingeschränkt, dass die Vielfalt der Gene innerhalb einer Spezies darüber entscheidet, welche Eigenschaften als Anpassung mobilisiert werden können, wenn sich die Umweltverhältnisse – wie etwa mit der gegenwärtigen, sehr schnellen Klimaerwärmung – verändern. Dann ist Vielfalt im Erbgut gefragt: Stehen Gene bereit, die sich für eine Anpassung an die neue Lage eignen? Bis jetzt galt: je mehr und vielfältiger, desto besser. Doch auch da scheinen die Alpenmurmeltiere aufgrund ihrer Geschichte schlechte Karten zu haben. Sie gehören zu den Säugetierarten mit der geringsten genetischen Variabilität. Aber ist das wirklich so gravierend?

Geniale Übertragung: Eltern können erworbene Erfahrungen durch Epigenetik auf die nächsten Generationen übertragen.
(Achtung: Ausschliesslich zu verwenden für den Artikel: Murmeltiere: Höher, bis es n ...
Geniale Übertragung: Eltern können erworbene Erfahrungen durch Epigenetik auf die nächsten Generationen übertragen.Bild ab Video: Jost Schneider

Gesteuerte Gene

Der Forschungszweig der Epigenetik, der zurzeit in einem enormen Boom der Wissenschaft viele neue, unerwartete Kenntnisse hervorbringt, sorgt vielleicht auch bei den Murmeltieren für Überraschungen. Bei epigenetischen Prozessen können Pflanzen- oder Tierarten – inklusive uns Menschen – ihr Verhalten oder ihre Eigenschaften im Organismus sehr schnell an neue Verhältnisse anpassen, ohne dass es dazu zwingend zeitraubende Mutationen der Gene und deren Auslese braucht, damit sich eine Spezies an neue Verhältnisse anpassen kann.

Viel schneller wirken epigenetische Mechanismen, die durch bestimmte Moleküle die bestehenden Gene beeinflussen und situationsgerecht steuern können, indem sie das Zusammenspiel einzelner Erbfaktoren neu kombinieren oder sie einfach stummschalten. Und genialerweise können manche dieser Steuermoleküle über Generationen weitervererbt werden, sodass eine erworbene, epigenetische Eigenschaft, die vorteilhaft ist, bestehen bleibt. Gerade bei Nagetieren hat man in diesem Bereich Erstaunliches beobachtet. Insofern ist durchaus möglich, dass bei Anpassungsvorgängen auch bei Murmeltieren noch andere Mechanismen als die Variabilität der Gene zum Vorschein kommen und die weitere Entwicklung mitbestimmen.

Vielleicht aber geht doch die uralte Evolutionsgeschichte der Alpenmurmeltiere durch die menschengemachte Klimaerwärmung ihrem Ende entgegen. Wenn sich die Umweltbedingungen verändern, müssen sich alle betroffenen Arten durch verschiedenste Mechanismen der Genetik und Epigenetik an die neuen Verhältnisse anpassen. Schaffen sie das nicht, sterben sie aus. Vielleicht überlebt ein Teil ihres Erbes in neuen Spezies, die sich entwickeln, die besser angepasst den Platz ihrer Vorgänger einnehmen. Vielleicht auch nicht. All das ist an sich ein natürlicher Prozess, der sich in der Geschichte des Lebens seit unendlicher Zeit wiederholt: Arten von Lebewesen kommen und sterben wieder aus – ein Prozess, der nie stillsteht, solange es auf diesem Planeten das universale Wunder des Lebens gibt.

Pfiffige Kerlchen: Murmeltiere schlagen der Kälte seit Jahrtausenden ein Schnippchen. Gelingt ihnen das auch gegenüber der Wärme?
(Achtung: Ausschliesslich zu verwenden für den Artikel: Murmeltiere: H ...
Pfiffige Kerlchen: Murmeltiere schlagen der Kälte seit Jahrtausenden ein Schnippchen. Gelingt ihnen das auch gegenüber der Wärme?Bild ab Video: Jost Schneider

Kommentar: Die Analyse der Ursachen

Heute die Murmeltiere …
Weshalb es den Murmeltieren in steigendem Ausmass zu warm wird, ist kein Geheimnis. Der industrielle Teil der Menschheit sorgt in Gesellschaft und Wirtschaft seit ein paar Jahrzehnten durch exzessiven Einsatz von Technologien der Verbrennung fossiler Energieträger, die ein Übermass an CO₂ und anderen Gasen erzeugen, für einen Treibhauseffekt, der in enormem Tempo die Umweltbedingungen verändert und die Erdatmosphäre aufheizt. Dies macht nicht nur den Murmeltieren in den Alpen zu schaffen. Die Zunahme von Extremereignissen gerade im Alpenraum steigt rapide an – Blatten, Gondo, die Mesolcina und das Maggiatal sind die Stichworte bei uns. Anderswo sind es Sommer-Temperaturen über 50 °C im südlichen Asien oder in der Türkei, verheerende Waldbrände in Südeuropa, Amerika oder Australien und viele weitere Beispiele. Und das ist wohl nur der Anfang von dem, was uns erwartet, wenn der CO₂-Ausstoss nicht schnell und umfassend reduziert wird.
>>> ETH-Forscherin über das Schweizer Wetterchaos – und die wahren Ursachen

Aus naturwissenschaftlicher Sicht macht der politische Wahnsinn, der in massgebenden Teilen der Welt zurzeit die Klima-Agenda bestimmt, nicht den Anschein, als ob die notwendigen Massnahmen zur Abwendung enormer klimabedingter Katastrophen für die Menschen bald eingeleitet würden. Selbst bei brutalster Evidenz in den Medien bezeichnen starke politische Strömungen das, was die Wissenschaft von der Klimaforschung bis zur Beobachtung von Murmeltieren zutage fördert, als Verschwörung und Erfindung obskurer, machtbesessener Technokraten. Doch nicht nur Anhänger verschiedenster Verschwörungstheorien, die von Fakten nichts wissen wollen, nehmen zu, sondern selbst gestandene Wirtschaftskapitäne interessieren sich immer noch viel mehr für die nächsten Quartalsabschlüsse und erstaunlicherweise wenig um die weitere, existenzielle Zukunft ihrer Unternehmen.

Obwohl viel geredet und PR-Material produziert wird, scheint in der Sache noch nicht angekommen: Damit die Wirtschaft funktionieren kann, muss die Erde bewohnbar und das Leben lebenswert bleiben … Entschiedenes Handeln mit unbequemen Investitionen scheinen aber zahlreiche CEOs in den Teppichetagen gerne ihren Nachfolgern zu überlassen. Wenn nämlich den Leuten, die im Lande Macht, Einfluss und Entscheidungsgewalt haben, der Klimaschutz ähnlich wichtig wäre wie etwa der Zollhammer aus Amerika, dann sähen die Klima-Agenda und die Aktionspläne weltweit anders aus. Dies in Anbetracht einer Dringlichkeit, auf die längst nicht nur eine einzelne Studie über Murmeltiere hinweist und bei der mehr als absehbar ist, was kommt, wenn es bald nicht nur den Murmeltieren zu heiss wird.
infobox image
Tierexperte Andreas Moser.Bild: Corinne Kägi

Quellen (Auswahl)

  • Miriam Simma, Arpat Ozgul, Francois Duchenne, Guido Ackermann, Hannes Jenny, Juerg Paul Müller & Anne Kempel (2025). Shifting Heights? A 40-Year Resurvey of Alpine Marmot Distribution in Response to Climate Change. Ecology and Evolution, 15:e71777 1 of 12
    https://doi.org/10.1002/ece3.71777
  • Toni I. Gossmann, Achchuthan Shanmugasundram, Stefan Borno, John J. Welch, Bernd Timmermann & Markus Ralser (2019). Ice-Age Climate Adaptations Trap the Alpine Marmot in a State of Low Genetic Diversity. Current Biology 29, 1712-1720
    https://doi.org/10.1016/j.cub.2019.04.020
  • Line S. Cordes, Daniel T. Blumstein, Kenneth B. Armitage, Paul J. CaraDonna, Dylan Z. Childs, Brian D. Gerber, Julien G. A. Martin, Madan K. Oli and Arpat Ozgul. (2020). Contrasting effects of climate change on seasonal survival of a hibernating mammal. PNAS 117, 30. 18119-18126
    www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.1918584117
  • Andrés Parada, John Hanson & Guillermo D'Eiía (2021). Ultraconserved Elements Improve the Resolution of Difficult Nodes within the Rapid Radiation of Neotropical Sigmodontine Rodents (Cricetidae: Sigmodontinae). Syst Biol. 70(6):1090-1100.
    doi: 10.1093/sysbio/syab023
  • Sarah Marmorosch (2024). Geografische Variation der Warnrufe von Alpenmurmeltieren. Schweizer Jugend forscht.
    https://inspiration.sjf.ch/geografische-variation-der-warnrufe-von-alpenmurmeltieren/
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Faktencheck: Die 9 beliebtesten Aussagen der Klimaskeptiker
1 / 12
Faktencheck: Die 9 beliebtesten Aussagen der Klimaskeptiker
Wir unterziehen 9 beliebte Aussagen von Klimaskeptikern dem Faktencheck. Ausführlichere Antworten und Quellen findest du hier.
quelle: epa / christos bletsos
Auf Facebook teilenAuf X teilen
«Es hat mit Wehmut zu tun» – wie der Klimawandel die Schweizer Bergwelt verändert
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
35 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Garp
02.08.2025 19:45registriert August 2018
Danke für den interessanten Artikel, Andreas. Ich hoffe wir können Dich hier in Zukunft öfters lesen.
512
Melden
Zum Kommentar
avatar
Merida
02.08.2025 21:08registriert November 2014
Mir fehlt NETZNatur...
Danke Andreas Moser für den ausführlichen Artikel.
361
Melden
Zum Kommentar
avatar
oléoléolé
02.08.2025 18:31registriert März 2021
Danke für den ausführlichen Artikel. Bitte die graue Box ebenfalls lesen. Sonst könnte der Eindruck entstehen, dass der Autor findet, dass das Artensterben ohne menschlichen Einfluss vonatatten geht.
313
Melden
Zum Kommentar
35
Judith Müller – die verges­se­ne Berner Künstlerin
Geboren in einem Künstlerumfeld, prägte Judith Müller über Jahrzehnte die Berner Kunstszene. Trotz öffentlicher Wandbilder, zahlreichen Ausstellungen und künstlerischem Engagement verschwand ihr Schaffen aus dem kulturellen Gedächtnis.
Sie gilt gerade noch knapp als Künstlerin der Moderne, einer Kunstepoche, die von etwa 1850 bis 1950 andauerte und mitunter die berühmtesten und auf dem Kunstmarkt am teuersten gehandelten Künstlerinnen und Künstler hervorbrachte. Während Ferdinand Gehrs’ (1896-1996) Spätwerk, welches er in den Nachkriegsjahren begann, oder die Werke von Alberto Giacometti (1901-1966) und Sophie Täuber Arps (1889-1943) ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind, bleiben Judith Müllers (1923-1977) Kunstwerke im wahrsten Sinne des Wortes versteckt – obwohl sie 1923 in Lugano zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Kaspar in ein bekanntes Schweizer Kunstmilieu geboren wurde.
Zur Story