Alzheimer ist die häufigste Form der Demenz. Es handelt sich um eine derzeit unheilbare neurodegenerative Erkrankung, von der laut Berechnungen der Organisation Alzheimer's Disease International rund 55 Millionen Menschen auf der ganzen Welt betroffen sind. Bis 2050 könnten es weltweit bereits 139 Millionen sein. Der Krankheitsverlauf ist gekennzeichnet durch einen langsamen, aber fortschreitenden Abbau der geistigen Fähigkeiten.
Die Forschung an Medikamenten gegen Alzheimer verläuft zäh und ist von vielen Rückschlägen geprägt. Erst Mitte November wurde etwa bekannt, dass das Medikament Gantenerumab des Pharmakonzerns Roche die Erwartungen nicht erfüllt. Das Arzneimittel konnte die für Alzheimer typischen Ablagerungen im Gehirn, sogenannte Beta-Amyloid-Plaques, kaum verringern. Dieses Schlüssel-Protein – neben dem Tau-Protein – häuft sich nach und nach im Gehirn an, was zum Absterben von Gehirnzellen und zur Schrumpfung des Gehirns führt.
Doch jetzt scheint es einen Lichtblick zu geben – das Antikörper-Medikament Lecanemab kann die Beta-Amyloid-Ablagerungen beseitigen, wie die Ergebnisse einer im «New England Journal of Medicine» erschienenen klinischen Studie hoffen lassen. Die Phase-III-Studie war während 18 Monaten mit 1795 Patienten im frühen Stadium der Demenzerkrankung in 235 Zentren in Nordamerika, Europa und Asien durchgeführt worden. Die Hälfte der Patienten erhielt das Medikament in zweiwöchentlichem Abstand, während die andere Hälfte ein Placebo bekam.
In regelmässigen Abständen wurde der Verlauf der Erkrankung überprüft; so wurden etwa die Gedächtnisleistung, das Orientierungsvermögen und die Problemlösekompetenz der Patienten untersucht. Das positive Ergebnis: Der kognitive Verfall der mit Lecanemab behandelten Patienten verlangsamte sich im Schnitt um 27 Prozent. Diese Patienten schnitten nach 18 Monaten also besser ab als jene in der Placebogruppe. Allerdings hatte sich die Krankheit auch bei ihnen verschlimmert.
Lecanemab ist von dem japanischen Pharmakonzern Eisai und dem US-amerikanischen Unternehmen Biogen entwickelt worden. Das Medikament könne Alzheimer nicht heilen oder aufhalten, aber den geistigen Abbau relevant verlangsamen, sagte der deutsche Alzheimer-Forscher Frank Jessen vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), der nicht an der Studie beteiligt war, dem Stern. Jessen spricht von einem «historischen Meilenstein in der Alzheimer-Forschung». Andere Beobachter sprechen von einer neuen Ära in der Alzheimer-Therapie.
Die Wirksamkeit des Medikaments war bereits Ende September bekannt gegeben worden; nun wurden die detaillierten Ergebnisse der Studie auf der Alzheimer-Konferenz Clinical Trial on Alzheimer's Disease (CTAD) in San Francisco vorgestellt. Sie zeigen allerdings auch die Inzidenzraten der Nebenwirkungen, die teilweise schwerwiegend waren und zudem deutlich häufiger auftraten als in der Kontrollgruppe der Patienten, die ein Placebo erhalten hatten.
So zeigte sich, dass 17,3 Prozent der mit Lecanemab behandelten Patienten an Hirnblutungen litten – verglichen mit 9 Prozent in der Placebogruppe. Noch stärker war der Unterschied bei Hirnödemen: Hier waren es 12,6 Prozent der Patienten, die das Medikament erhalten hatten, gegenüber 1,7 Prozent der Placebo-Empfänger.
Fragen zur Sicherheit des Medikaments waren aufgekommen, nachdem einige Wissenschaftler zwei Todesfälle im Rahmen der Studie mit dem Antikörper-Medikament in Verbindung gebracht hatten. Die Gesamtmortalitätsrate war indes bei beiden Patientengruppen nahezu gleich (0,7 % bei jenen Patienten, die Lecanemab erhalten hatten; 0,8 % bei der Placebogruppe). Laut der Studie starben insgesamt 13 Personen während des Test-Zeitraums, darunter 6, die das Medikament erhalten hatten, und 7 in der Placebogruppe. Keiner der Todesfälle wurde von den Studienautoren auf Lecanemab zurückgeführt.
«Es ist das erste Medikament, das eine echte Behandlungsmöglichkeit für Menschen mit Alzheimer bietet», urteilte Bart De Strooper, Direktor des Britischen Instituts für Demenzforschung, im Guardian. «Obwohl die klinischen Vorteile etwas begrenzt erscheinen, kann man davon ausgehen, dass sie deutlicher werden, wenn das Medikament über einen längeren Zeitraum verabreicht wird», fügte er an.
Linda Thienpont, Leiterin Wissenschaft bei der Alzheimer Forschung Initiative, kommentiert die Ergebnisse wie folgt:
Da Lecanemab nur in den frühen Phasen von Alzheimer auf die Ablagerungen des Beta-Amyloid-Proteins im Gehirn abzielt, könnte dies seine Verwendung einschränken – Alzheimer wird oft erst spät diagnostiziert. Zudem ist das Medikament teuer – zwischen 10'000 und 30'000 Pfund pro Jahr und Patient (umgerechnet zwischen 11'400 und 34'200 Franken), wie der «Guardian» schreibt. Und dies bei einer nach wie vor eher bescheidenen Wirkung, zumindest über 18 Monate hinweg.
Gleichwohl wird Lecanemab in den USA bereits in einem beschleunigten Zulassungsverfahren geprüft. Ein Antrag auf Marktzulassung in Europa und Japan ist ebenfalls bis Ende März nächsten Jahres geplant. (dhr)