Die junge Raumfahrtnation China hat bereits unbemannte Rover auf den Mond und den Mars verfrachtet. Auch in der bemannten Raumfahrt holt die Volksrepublik zu den Spitzenreitern USA und Russland auf. So startete am letzten Sonntag eine Trägerrakete des Typs «Langer Marsch 5B», um das Modul Wentian zur chinesischen Raumstation «Tiangong» («Himmelspalast») zu befördern, die derzeit im Bau ist. Wie geplant dockte das Modul nach 13 Stunden Flug an der Station an.
Das Problem dabei: Die erste Stufe der schweren Trägerrakete – der sogenannte Booster – wird nächstens auf die Erde zurückfallen. Der etwa 22,5 Tonnen schwere Weltraumschrott wird beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre nicht vollständig verglühen; zwischen 4,5 und 9 Tonnen Trümmer werden die Oberfläche des Planeten treffen, voraussichtlich mit einer Geschwindigkeit von immer noch mehreren hundert Kilometer pro Stunde. Die Frage ist, wann und vor allem wo dies geschehen wird.
Derzeit ist dies noch unklar. Es ist jedoch kein Grund, um nun in Panik zu geraten, denn sicher ist, dass der Einschlagsort zwischen dem nördlichen und südlichen 41. Breitengrad liegen wird. Das bedeutet, dass die Schweiz mit Sicherheit ausserhalb der gefährdeten Zone liegt – ihre südlichsten Gebiete liegen nur wenig jenseits des 46. Breitengrads. Südeuropäische Städte wie Rom oder Athen könnten zumindest theoretisch getroffen werden, aber ein solches Szenario ist extrem unwahrscheinlich.
Potenziell gefährdet ist auch der Luftverkehr im möglichen Einschlagsbereich. Die Europäische Luft- und Raumfahrtagentur (Easa) hat daher die Luftfahrtbehörden, Airlines und Flugsicherungen angewiesen, jeweils die neusten Vorhersagen über den Wiedereintritt in ihrer Planung zu berücksichtigen, wie aerotelegraph.com berichtet. Sie empfiehlt den betroffenen nationalen Luftfahrtbehörden, den Luftraum um die möglichen Eintrittsstellen jeweils für wenige Minuten in einem Umkreis von 200 Kilometern zu sperren, wenn die Raketenstufe dort vorbeifliegt.
Die Aerospace Corporation hat die Flugbahn der Raketenstufe letztmals am 29. Juli berechnet; demnach wird der Wiedereintritt in die Atmosphäre am 30. Juli um 20.26 Uhr (MESZ) erfolgen – mit einer Unsicherheitsmarge von plus/minus 6 Stunden. Dies ist schlicht zu ungenau, um den Ort des Einschlags jetzt schon zu bestimmen; erst wenige Stunden davor wird dies möglich sein.
Our latest prediction for #CZ5B rocket body reentry is:
— The Aerospace Corporation (@AerospaceCorp) July 29, 2022
🚀30 Jul 2022 18:26 UTC ± 6 hours
Reentry will be along one of the ground tracks shown here. It is still too early to determine a meaningful debris footprint. Follow this page for updates: https://t.co/SxrMtcrMrs pic.twitter.com/mjg0F8k1qX
Die Wahrscheinlichkeit, von einem Trümmerstück getroffen zu werden, ist auch in der gefährdeten Zone extrem klein. 71 Prozent der gesamten Erdoberfläche ist mit Wasser bedeckt, und im möglichen Einschlagsbereich ist der Anteil der von Wasser bedeckten Oberfläche noch höher. Von der Landfläche sind überdies bedeutende Teile nur dünn besiedelt. Gleichwohl ist das Risiko nicht gleich null: Laut dem Center for Orbital Reentry and Debris Studies (CORDS) der Aerospace Corporation leben mehr als 88 Prozent der Weltbevölkerung im möglichen Einschlagsbereich.
Es ist nicht das erste Mal, dass eine chinesische Raketenstufe unkontrolliert abstürzt. Während die meisten Trägerraketen so konstruiert sind, dass die erste Stufe kurz nach dem Start zurück zur Erde fällt – und dann ins Meer stürzt oder vertikal landet –, fliegt sie bei der «Langer-Marsch-5B»-Rakete mit in den Orbit. Nach einigen Tagen stürzt sie dann unkontrolliert ab, ohne dass der Wiedereintritt und der Einschlagsort vorhergesagt oder beeinflusst werden können.
Genau dies ereignete sich im Mai 2020 schon einmal, als Teile der Raketenstufe im westafrikanischen Staat Côte d'Ivoire einschlugen und Häuser in einigen Dörfern beschädigten. Tote oder Verletzte gab es nicht. Im Mai des folgenden Jahres stürzte eine Stufe im Indischen Ozean nahe bei den Malediven ab. Hier gab es keine Schäden, aber der Weltraumschrott überquerte auf seiner Flugbahn mehrere bewohnte Gebiete, die er ebenfalls hätte treffen können. China liess zudem auch die Raumstationen «Tiangong 1» (2018) und «Tiangong 2» (2019) abstürzen, die nur teilweise verglühten. Deren Reste landeten im Südpazifik.
Und schon im Herbst 2022 könnte es wieder so weit sein: Dann wird eine Trägerrakete das dritte Modul für die chinesische Raumstation in den Orbit befördern – und danach ebenfalls unkontrolliert abstürzen.
Das chinesische Vorgehen stösst auf Kritik: Schon nach dem Absturz im vergangenen Jahr sagte Nasa-Chef Bill Nelson: «Raumfahrtnationen müssen die Risiken für Menschen und Eigentum auf der Erde durch den Wiedereintritt von Weltraumobjekten minimieren und die Transparenz dieser Operationen maximieren.»
Und spezifisch an die Adresse Chinas gerichtet, fügte Nelson hinzu: «Es ist klar, dass China im Umgang mit seinem Weltraummüll keine verantwortungsvollen Standards einhält. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass China und alle Raumfahrtnationen und kommerziellen Unternehmen im Weltraum verantwortungsbewusst und transparent handeln, um die Sicherheit, Stabilität, Gefahrenabwehr und langfristige Nachhaltigkeit der Weltraumaktivitäten zu gewährleisten.» (dhr)