Wissen
Astronomie

Das Kessler-Syndrom –wenn der Müll im All überhand nimmt

Darstelluing eines explodierenden Satelliten
Trümmerwolke im Orbit: Darstellung eines explodierenden Satelliten. Bild: ESA

Das Kessler-Syndrom oder wie eine Kettenreaktion im All unser Leben verändern könnte

09.09.2018, 14:2025.05.2020, 19:35
Daniel Huber
Mehr «Wissen»

Am 10. Februar 2009 war es soweit: Knapp 800 Kilometer über den eisigen Weiten Sibiriens stiessen erstmals zwei Satelliten im Orbit zusammen. Als der amerikanische Satellit Iridium-33 mit einer relativen Geschwindigkeit von fast 40'000 Kilometern pro Stunde in den seit 1995 ausgedienten russischen Kosmos-2251 knallte – natürlich vollkommen lautlos, schliesslich gibt es im All keinen Träger für Schallwellen –, zerbarsten beide in über hunderttausend Trümmerstücke. Der Satellitenschrott taumelt seither durch den Orbit und gefährdet jedes Raumfahrzeug, das seinen Weg kreuzt.

Die Satellitentrümmer – nur die 2201 grössten Teile sind katalogisiert – zischten mehrmals nahe an der Internationalen Weltraumstation (ISS) vorbei und zwangen sie zu Ausweichmanövern. Wer sich davon an den Weltraum-Streifen «Gravity» (2013) erinnert fühlt, liegt nicht falsch – ein Zusammenstoss mit dem Weltraumschrott könnte für Astronauten fatale Folgen haben.

In der Tat beruht die Grundidee des Films auf einer Theorie, die der amerikanische Astronom und damalige NASA-Mitarbeiter Donald J. Kessler 1978 vorbrachte und die seither als Kessler-Syndrom bekannt ist. Das Kessler-Syndrom beschreibt die Gefahr, dass sich die Zahl der Trümmerstücke im erdnahen Orbit in einer Kettenreaktion vervielfältigt – jede Kollision erzeugt neue Trümmer, und je grösser die Anzahl der Trümmerstücke ist, desto wahrscheinlicher werden Kollisionen.

Trailer von «Gravity»: Fatale Folgen des Weltraumschrotts. Video: YouTube/KinoCheck

Zwar sind Zusammenstösse zwischen kleinen Objekten eher unwahrscheinlich, weil sich diese meistens verfehlen, und auch Kollisionen zwischen grossen Objekten sind wenig wahrscheinlich. Die meisten Kollisionen finden statt, wenn kleine Objekte auf grosse treffen. Kessler warnte vor einem sich selbst verstärkenden Kaskadeneffekt, der die Zahl der Schrottteilchen exponentiell anwachsen lässt. In einer Studie aus dem Jahr 1991 schätzte er, die Kollisionsrate könne sich alle fünf Jahre verdoppeln.

Künstlerische Darstellung von Weltraumschrott
Im Orbit kreist immer mehr Weltraumschrott. Bild: Shutterstock

Von einem bestimmten Zeitpunkt an – Kessler spricht von rund hundert Jahren – würde dieser Effekt jede bemannte Raumfahrt für Jahrzehnte nahezu verunmöglichen, weil das Kollisionsrisiko zu hoch wäre. Und nicht nur für die bemannte Raumfahrt wäre diese Schrott-Kettenreaktion fatal. Derzeit kreisen etwa 900 bis 1000 aktive Satelliten um die Erde.

Sie haben mehr mit unserem Alltag zu tun, als man denken würde: Nicht nur Wettervorhersagen, Satellitenfernsehen und überhaupt die globale Telekommunikation hängen von den künstlichen Trabanten ab, sondern alles, was mit GPS zu tun hat; von der weltweiten Warenlogistik bis zur Navigation im Auto und Google Maps auf dem Smartphone. Unsere Welt sähe ohne Satelliten anders aus.

Raumfahrt

Kessler, der sich eigentlich mit den Folgen von Kollisionen zwischen Asteroiden beschäftigte, formulierte seine Theorie, als rund 4000 künstliche Objekte – Satelliten und Schrott – unseren Planeten umkreisten, die gross genug waren, um von der Erde aus mittels Radartechnik erfasst zu werden.

Heute zählt man laut Schätzungen der Nasa etwa 21'000 Objekte von mindestens zehn Zentimeter Grösse und rund 500'000 Objekte von einem Zentimeter Mindestgrösse. Die Zahl der Schrotteile, die kleiner als ein Zentimeter sind, beträgt sogar 100 Millionen. Insgesamt kreisen rund 700'000 Tonnen Schrott um die Erde; der grösste Teil davon in einer Höhe von 750 bis 800 Kilometern.

The GEO images are images generated from a distant oblique vantage point to provide a good view of the object population in the geosynchronous region (around 35,785 km altitude). Note the larger popul ...
Virtueller Blick von einem entfernten Punkt im All auf die Erde und die sie umkreisenden Objekte. Bild: NASA

Die hohe Geschwindigkeit von mehr als sieben bis acht Kilometern pro Sekunde macht auch aus den kleinen Trümmerstücken gefährliche Geschosse. Die durchschnittliche relative Geschwindigkeit beim Zusammenprall mit anderen Objekten liegt bei zehn Kilometern pro Sekunde. Treffen ein nur ein Zentimeter grosses Schrottteilchen aus Aluminium und ein Satellit mit dieser Geschwindigkeit aufeinander, hat das Teilchen dieselbe Energie wie ein Mittelklassewagen mit 50 Kilometern pro Stunde.

Astronomie

Ein zehn Zentimeter grosses Objekt besitzt genug kinetische Energie, um einen Satelliten auseinanderzureissen – so viel wie 7 Kilogramm TNT. So erstaunt es nicht, dass laut NASA-Angaben schon viele Fenster von Raumschiffen ausgetauscht werden mussten, weil winzige, millimetergrosse Teilchen sie beschädigt hatten.

Orbiting debris hit Space Shuttle Endeavour’s radiator during one of its missions. The entry hole is about 6 millimeters (0.25 inches) across, and the exit hole is twice as large.
Dieses Loch im Radiator des Space Shuttles «Endeavour» wurde von einem Stück Weltraumschrott verursacht. Das Eintrittsloch weist einen Durchmesser von rund 6 mm auf, das Austrittsloch ist doppelt so gross.Bild: NASA

Die Trümmer stammen zum Teil aus früheren Missionen; beispielsweise ausgebrannte Raketenstufen, die nicht zurück zur Erde fallen, Sprengbolzen oder abgesprengte Abdeckungen. Dazu kommen noch absichtlich herbeigeführte Kollisionen: Sogenannte Killersatelliten sollen Spionagesatelliten des Gegners ausschalten. Wie oft solche Manöver tatsächlich im All erprobt wurden, ist nicht bekannt.

Sicher ist, dass China im Januar 2007 bei einem Test einen ausgedienten Fengyun-1C-Wettersatelliten in 850 Kilometer Höhe mit einer Rakete zerstört hat. Dabei wurden etwa 150'000 Trümmerstücke erzeugt, darunter 3000 grössere. Sie machen heute zusammen mit dem Schrott der Satellitenkollision von 2009 etwa einen Drittel des gesamten katalogisierten Weltraummülls aus.

Grafik: Zunahme der Anzahl Objekte im Orbit seit 1960
Die Anzahl der Objekte im Orbit nimmt laufend zu. Die verschiedenen Farben bezeichnen unterschiedliche Höhen; weitaus am wichtigsten ist der LEO (Low Earth Orbit, 160–2000 km). Deutlich sichtbar sind die Auswirkungen des chinesischen Tests 2007 und der Satellitenkollision 2009. Grafik: ESA

Angesichts der Gefahren, die vom Weltraumschrott ausgehen, ist es nicht erstaunlich, dass die führenden Weltraumnationen spezielle Richtlinien erlassen haben. Ausgediente Satelliten sollen entweder gezielt zum Absturz gebracht oder in weit entfernte Umlaufbahnen transferiert werden. Zudem gibt es Pläne, den Schrott wenigstens zum Teil wieder einzusammeln und zu entsorgen.

Seit Juni dieses Jahres befindet sich die experimentelle Satellitenplattform Remove Debris im Orbit. Der erste europäische Satellit, der Weltraumschrott beseitigen soll, wird verschiedene Technologien erproben. Er ist mit einem Lasersystem ausgerüstet, das am CSEM in Neuenburg entwickelt wurde.

Noch nicht ins All gestartet ist das 2012 lancierte Schweizer Projekt Clean Space One der ETH Lausanne. Es soll erst 2021 in den Orbit geschossen werden. Noch etwas länger wird es bis zum Start von e.Deorbit dauern: Dieses Projekt der European Space Agency (ESA) sieht vor, dass ein 1600 Kilogramm schwerer Satellit 2023 ins All geschossen wird und dort einen ausgedienten Satelliten mithilfe von mechanischen Fangarmen oder Netzen einfängt.

e.Deorbit will be the first-ever active debris removal mission
So etwa könnte der e.Deorbit-Satellit einen ausgedienten Satelliten einfangen. Bild: ESA

Wie dringend das Problem des Weltraummülls ist, hat sich gerade letzte Woche wieder gezeigt: Am Donnerstag teilte die NASA mit, dass die Messgeräte der ISS einen leichten Druckabfall festgestellt hätten. Die Crew fand schliesslich den Grund dafür: Ein zwei Millimeter grosses Loch im russischen Teil der Station – verursacht vermutlich durch ein winziges Stück Weltraumschrott.*

*Mittlerweile geht man davon aus, dass es sich um ein gebohrtes Loch handelt. (Update 11.09.2018)

«Kessler Syndrome | Space Junk.»Video: YouTube/R P

Weltraumschrott – Die Gefahr aus dem All

Infografik Weltraumschrott
https://de.rs-online.com/web/generalDisplay.html?id=i/weltraumschrott
Diese Infografik stammt von RS Components.Infografik: RS Components

IXV – die wiederverwendbare Raumfähre der ESA

1 / 12
IXV – die wiederverwendbare Raumfähre der ESA
Voilà, das IXV. Mit ihm testet die ESA Technologien, die den Wiedereintritt in die Erdatmosphäre erlauben.
quelle: esa / jacky huart
Auf Facebook teilenAuf X teilen

Sterne, Planeten, Monde und noch mehr Weltraum-Stoff

Weltraum-Schrott

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
27 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Angelo C.
09.09.2018 15:20registriert Oktober 2014
Einmal mehr ein ebenso informativer wie lehrreicher Huber-Artikel, Berichte die für mich zu den absoluten highlights bei WATSON zählen 🤔.

Kompliment !
110
Melden
Zum Kommentar
avatar
azoui
09.09.2018 15:18registriert Oktober 2015
Wir verschmutzen unseren Orbit noch schneller, als Mutter Erde.
50
Melden
Zum Kommentar
avatar
SilWayne
09.09.2018 14:58registriert Mai 2015
Beim letzten Satz handelt es sich mit grosser Wahrscheinlichkeit um einen Irrtum. Kratzspuren ums Loch herum weisen eher auf ein falsch gesetztes Bohrloch hin, welches danach für den Drucktest behelfsmässig abgedichtet wurde.
10
Melden
Zum Kommentar
27
Grünes Gold aus Niederländisch-Indien
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts suchte das Binnenland Schweiz nach Wegen, um sich die unermessliche Vielfalt der tropischen Botanik nutzbar zu machen. In Buitenzorg auf Java wurde man fündig.

«Gerade weil wir keine Kolonien besitzen und schwerlich Aussicht haben, solche zu erwerben, so müssen wir Ausschau nach allen Regionen der Erde halten, um unseren wirtschaftlichen Einfluss nach aussen hin zu wahren», mahnt die Geographisch-ethnografische Gesellschaft Zürich in ihrem Jahresbericht von 1899/1900. Auch die kaufmännischen Gesellschaften sind angesichts des florierenden Überseehandels der europäischen Kolonialmächte besorgt: «Es ist zu bedauern, dass die Schweiz verurteilt ist, der grossen Bewegung fernzubleiben.»

Zur Story