Am 10. Februar 2009 war es soweit: Knapp 800 Kilometer über den eisigen Weiten Sibiriens stiessen erstmals zwei Satelliten im Orbit zusammen. Als der amerikanische Satellit Iridium-33 mit einer relativen Geschwindigkeit von fast 40'000 Kilometern pro Stunde in den seit 1995 ausgedienten russischen Kosmos-2251 knallte – natürlich vollkommen lautlos, schliesslich gibt es im All keinen Träger für Schallwellen –, zerbarsten beide in über hunderttausend Trümmerstücke. Der Satellitenschrott taumelt seither durch den Orbit und gefährdet jedes Raumfahrzeug, das seinen Weg kreuzt.
Die Satellitentrümmer – nur die 2201 grössten Teile sind katalogisiert – zischten mehrmals nahe an der Internationalen Weltraumstation (ISS) vorbei und zwangen sie zu Ausweichmanövern. Wer sich davon an den Weltraum-Streifen «Gravity» (2013) erinnert fühlt, liegt nicht falsch – ein Zusammenstoss mit dem Weltraumschrott könnte für Astronauten fatale Folgen haben.
In der Tat beruht die Grundidee des Films auf einer Theorie, die der amerikanische Astronom und damalige NASA-Mitarbeiter Donald J. Kessler 1978 vorbrachte und die seither als Kessler-Syndrom bekannt ist. Das Kessler-Syndrom beschreibt die Gefahr, dass sich die Zahl der Trümmerstücke im erdnahen Orbit in einer Kettenreaktion vervielfältigt – jede Kollision erzeugt neue Trümmer, und je grösser die Anzahl der Trümmerstücke ist, desto wahrscheinlicher werden Kollisionen.
Zwar sind Zusammenstösse zwischen kleinen Objekten eher unwahrscheinlich, weil sich diese meistens verfehlen, und auch Kollisionen zwischen grossen Objekten sind wenig wahrscheinlich. Die meisten Kollisionen finden statt, wenn kleine Objekte auf grosse treffen. Kessler warnte vor einem sich selbst verstärkenden Kaskadeneffekt, der die Zahl der Schrottteilchen exponentiell anwachsen lässt. In einer Studie aus dem Jahr 1991 schätzte er, die Kollisionsrate könne sich alle fünf Jahre verdoppeln.
Von einem bestimmten Zeitpunkt an – Kessler spricht von rund hundert Jahren – würde dieser Effekt jede bemannte Raumfahrt für Jahrzehnte nahezu verunmöglichen, weil das Kollisionsrisiko zu hoch wäre. Und nicht nur für die bemannte Raumfahrt wäre diese Schrott-Kettenreaktion fatal. Derzeit kreisen etwa 900 bis 1000 aktive Satelliten um die Erde.
Sie haben mehr mit unserem Alltag zu tun, als man denken würde: Nicht nur Wettervorhersagen, Satellitenfernsehen und überhaupt die globale Telekommunikation hängen von den künstlichen Trabanten ab, sondern alles, was mit GPS zu tun hat; von der weltweiten Warenlogistik bis zur Navigation im Auto und Google Maps auf dem Smartphone. Unsere Welt sähe ohne Satelliten anders aus.
Kessler, der sich eigentlich mit den Folgen von Kollisionen zwischen Asteroiden beschäftigte, formulierte seine Theorie, als rund 4000 künstliche Objekte – Satelliten und Schrott – unseren Planeten umkreisten, die gross genug waren, um von der Erde aus mittels Radartechnik erfasst zu werden.
Heute zählt man laut Schätzungen der Nasa etwa 21'000 Objekte von mindestens zehn Zentimeter Grösse und rund 500'000 Objekte von einem Zentimeter Mindestgrösse. Die Zahl der Schrotteile, die kleiner als ein Zentimeter sind, beträgt sogar 100 Millionen. Insgesamt kreisen rund 700'000 Tonnen Schrott um die Erde; der grösste Teil davon in einer Höhe von 750 bis 800 Kilometern.
Die hohe Geschwindigkeit von mehr als sieben bis acht Kilometern pro Sekunde macht auch aus den kleinen Trümmerstücken gefährliche Geschosse. Die durchschnittliche relative Geschwindigkeit beim Zusammenprall mit anderen Objekten liegt bei zehn Kilometern pro Sekunde. Treffen ein nur ein Zentimeter grosses Schrottteilchen aus Aluminium und ein Satellit mit dieser Geschwindigkeit aufeinander, hat das Teilchen dieselbe Energie wie ein Mittelklassewagen mit 50 Kilometern pro Stunde.
Ein zehn Zentimeter grosses Objekt besitzt genug kinetische Energie, um einen Satelliten auseinanderzureissen – so viel wie 7 Kilogramm TNT. So erstaunt es nicht, dass laut NASA-Angaben schon viele Fenster von Raumschiffen ausgetauscht werden mussten, weil winzige, millimetergrosse Teilchen sie beschädigt hatten.
Die Trümmer stammen zum Teil aus früheren Missionen; beispielsweise ausgebrannte Raketenstufen, die nicht zurück zur Erde fallen, Sprengbolzen oder abgesprengte Abdeckungen. Dazu kommen noch absichtlich herbeigeführte Kollisionen: Sogenannte Killersatelliten sollen Spionagesatelliten des Gegners ausschalten. Wie oft solche Manöver tatsächlich im All erprobt wurden, ist nicht bekannt.
Sicher ist, dass China im Januar 2007 bei einem Test einen ausgedienten Fengyun-1C-Wettersatelliten in 850 Kilometer Höhe mit einer Rakete zerstört hat. Dabei wurden etwa 150'000 Trümmerstücke erzeugt, darunter 3000 grössere. Sie machen heute zusammen mit dem Schrott der Satellitenkollision von 2009 etwa einen Drittel des gesamten katalogisierten Weltraummülls aus.
Angesichts der Gefahren, die vom Weltraumschrott ausgehen, ist es nicht erstaunlich, dass die führenden Weltraumnationen spezielle Richtlinien erlassen haben. Ausgediente Satelliten sollen entweder gezielt zum Absturz gebracht oder in weit entfernte Umlaufbahnen transferiert werden. Zudem gibt es Pläne, den Schrott wenigstens zum Teil wieder einzusammeln und zu entsorgen.
Seit Juni dieses Jahres befindet sich die experimentelle Satellitenplattform Remove Debris im Orbit. Der erste europäische Satellit, der Weltraumschrott beseitigen soll, wird verschiedene Technologien erproben. Er ist mit einem Lasersystem ausgerüstet, das am CSEM in Neuenburg entwickelt wurde.
Noch nicht ins All gestartet ist das 2012 lancierte Schweizer Projekt Clean Space One der ETH Lausanne. Es soll erst 2021 in den Orbit geschossen werden. Noch etwas länger wird es bis zum Start von e.Deorbit dauern: Dieses Projekt der European Space Agency (ESA) sieht vor, dass ein 1600 Kilogramm schwerer Satellit 2023 ins All geschossen wird und dort einen ausgedienten Satelliten mithilfe von mechanischen Fangarmen oder Netzen einfängt.
Wie dringend das Problem des Weltraummülls ist, hat sich gerade letzte Woche wieder gezeigt: Am Donnerstag teilte die NASA mit, dass die Messgeräte der ISS einen leichten Druckabfall festgestellt hätten. Die Crew fand schliesslich den Grund dafür: Ein zwei Millimeter grosses Loch im russischen Teil der Station – verursacht vermutlich durch ein winziges Stück Weltraumschrott.*
*Mittlerweile geht man davon aus, dass es sich um ein gebohrtes Loch handelt. (Update 11.09.2018)