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Annäherung an die EU nach dem EWR-Nein: Mit Schirm, Charme und Ogi

Bundespräsident Adolf Ogi und Helmut Kohl an einem Treffen im Oktober 1993. Ebenfalls dabei sind Flavio Cotti und Kaspar Villiger.
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Bundespräsident Adolf Ogi und Helmut Kohl an einem Treffen im Oktober 1993. Ebenfalls dabei sind Flavio Cotti und Kaspar Villiger.Bild: Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Mit Schirm, Charme und Ogi – Wie der Bundesrat nach dem EWR-Nein agierte

Im Jahr 1993 lancierte der Bundesrat angeführt von Bundespräsident Ogi eine Charmeoffensive, um nach der historischen Niederlage in der EWR-Abstimmung vom 6. Dezember 1992 bilaterale Verhandlungen mit der EU aufzugleisen.
28.01.2024, 23:03
Thomas Bürgisser / Schweizerisches Nationalmuseum
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Sie strahlen um die Wette: ein braungebrannt-dynamischer Adolf Ogi, Verkehrsminister und Bundespräsident, im Händedruck um Augenhöhe mit dem fast riesenhaften deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl bemüht. Daneben stehen, etwas schulbubenhaft, die Bundesräte Kaspar Villiger und Flavio Cotti.

Kulisse ist der Eingang zum Lohn, dem stattlichen Landgut in Kehrsatz bei Bern, das dem Bundesrat als Gästehaus dient. Hier empfängt die Landesregierung seit Jahrzehnten hochkarätige Persönlichkeiten aus aller Welt. An diesem 18. Oktober 1993 ist mit Kohl der Kanzler der deutschen Einheit zu Gast, das Schwergewicht der europäischen Politik nach Ende des Kalten Krieges.

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Bundeskanzler Kohl bezeichnete sich als Freund der Eidgenossenschaft. Und die Schweiz hatte Freunde dringend nötig. Am 6. Dezember 1992 hatte die Stimmbevölkerung den Vertrag über den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) abgelehnt. Der Bundesrat hatte sich für einen EWR-Beitritt ausgesprochen, als Schritt hin zu einer weitgehenden Integration des Landes in eine die wachsende Europäische Gemeinschaft. Im Herbst 1991 hatte er als strategisches Ziel eine Mitgliedschaft der Schweiz bei der EU beschlossen.

Das EWR-Nein stellte dieses Ziel grundsätzlich in Frage. 1993 musste der Bundesrat deshalb Brüssel und die Mitgliedstaaten contre cœur dazu bringen, die Schweiz zumindest vorübergehend als Sonderfall der europäischen Integration zu akzeptieren.

Helmut Kohl, ein Freund der Schweiz, und Adolf Ogi stehen der Presse Red und Antwort.
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Helmut Kohl, ein Freund der Schweiz, und Adolf Ogi stehen der Presse Red und Antwort.Bild: Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Das Treffen vom 18. Oktober wurde während eines privaten Aufenthalts Kohls am Filmfestival von Locarno im August eingefädelt. Die Gespräche mit der Delegation des Bundesrats fanden unter acht Augen statt, was aussergewöhnlich war. Kein Mitarbeiter oder Diplomat notierte, was mit Kohl diskutiert wurde. Von Bundespräsident Ogi sind handschriftliche Stichworte im Archiv überliefert; Bundesrat Villiger publizierte seine Erinnerungen an das Gespräch in einer Autobiografie. Es ging um die europäische Integration und die Rolle Deutschlands. Aber natürlich auch um die Situation der Schweiz. In einem Dankesbrief an Kohl hielt Ogi noch einmal die schweizerischen Prioritäten in den anstehenden bilateralen Verhandlungen mit der EU fest.

EG oder EU?
Die Europäische Gemeinschaft (EG) ging 1967 aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Euratom und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl hervor. Mit dem Maastrichter Vertrag wurde die EG am 1. November 1993 zur wichtigsten Säule der damals gegründeten Europäischen Union (EU). Die Gründung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) durch die Schweiz und sechs weitere Länder im Jahr 1960 war eine Reaktion auf den Prozess der europäischen Integration. Der Europäische Wirtschaftsraum (EWR) wurde 1989 ursprünglich als gemeinsames Dach zwischen EG und EFTA konzipiert. Durch das Nein der Schweiz zum EWR und dem Beitritt der EFTA-Staaten Österreich, Schweden und Finnland zur EU 1995 verlor er rasch an Bedeutung.

Es galt, die EU dazu zu bringen, in sektoriellen Verhandlungen der Schweiz möglichst vorteilhafte Bedingungen für ein bilaterales Abkommen zu bieten, das eigentlich in Europa nicht vorgesehen war. Nach dem Fall des «Eisernen Vorhangs» 1989/90 strebten nämlich alle europäischen Staaten nach einer EU-Mitgliedschaft. Allen voran die neutralen Partner der Schweiz – Österreich, Schweden, Finnland – alles auch Mitglieder der einstmals bedeutenden Freihandelsassoziation EFTA, die richtiggehend zusammenbrach.

Aber auch die neu unabhängigen Staaten Mittel- und Osteuropas suchten eine Anbindung an die EU. Für Bundeskanzler Kohl war deshalb, bei aller Sympathie für die Eigenheiten der Eidgenossenschaft, «das baldige Einschwenken der Schweiz auf den EG-Beitrittskurs ein Gebot einfachster Einsicht». «Schweizer Trotz nützt auf die lange Sicht nicht», mahnte er beim Treffen im Lohn.

Der britische Premier John Major gibt sich die Ehre: Treffen mit Adolf Ogi 1993 in Bern.
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Der britische Premier John Major gibt sich die Ehre: Treffen mit Adolf Ogi 1993 in Bern.Bild: Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Aussenminister Cotti und Wirtschaftsminister Jean-Pascal Delamuraz argumentierten deshalb im Juni gegenüber der EG-Kommission in Brüssel, «der bilaterale Ansatz sei unzureichend und provisorisch» und das Ziel bleibe nach wie vor der EU-Beitritt, doch dafür sei es eben gerade wichtig, dass die EG «der Schweizer Bevölkerung ein konziliantes Bild ihrer selbst vermittle», indem sie bei den Bilateralen der Schweiz entgegenkomme.

Dieses Mantra wiederholten die Mitglieder des Bundesrats das ganze Jahr 1993 hindurch anlässlich einer nie zuvor gesehenen Anzahl Treffen mit europäischen Spitzenpolitikern.

Bundespräsident Ogi tat es im Januar am World Economic Forum (WEF) in Davos und im Frühjahr zusammen mit den Bundesräten Cotti und Delamuraz beim Arbeitsbesuch des britischen Premiers John Major in Bern. Im Juni wurde Ogi während eines Aufenthalts in Paris überraschend von Frankreichs Präsident François Mitterrand im Élysée-Palast empfangen. Ogi lud ihn gleich in seine Berner Oberländer Heimat ein, wo er ihn am 3. Dezember herzlich willkommen hiess: «Monsieur le Président, vous aimez la Suisse, et les Suisses vous aiment», begrüsste er Mitterrand in seiner entwaffnenden Art und Weise.

Am 9. November hatte der Aussenministerrat der EG beschlossen, auf die Verhandlungsvorschläge der Schweiz einzutreten. Die erste Hürde war genommen. Es hätten sich «gute Anwälte, wenn nicht gar Freunde» innerhalb der EG für die Schweiz eingesetzt, konstatierte der Vorsteher des Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), Bundesrat Cotti, über das «Tauwetter» in Brüssel.

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Selbstverständlich war dies nicht. Insbesondere die südlichen Mitgliedstaaten der EG setzten die Schweiz stark unter Druck. Portugals Premierminister Aníbal Cavaco Silva brachte bereits anlässlich des WEF Ogi gegenüber seine Enttäuschung über das Nein zum EWR zum Ausdruck und gab zu verstehen, er erwarte von der Schweiz nun «einige Gesten, beispielsweise im Bereich der Familienzusammenführungen (Gastarbeiter) oder der Kohäsion».

Tatsächlich brauchte Lissabon in der Affäre um die Entsorgung von einigen tausend Tonnen Salzschlacke, die ein schweizerisches Unternehmen nach Portugal exportiert hatte, Berns Bittsteller-Situation bezüglich der Bilateralen als Hebel. Botschafter Franz von Däniken, der leitende Beamte im EDA, anerkannte zwar, dass die Ausfuhr von Industrieabfällen ein problematisches Geschäft darstelle. «Ein solches Problem jedoch ins Zentrum bilateraler Beziehungen mit einem anderen, angeblich befreundeten westeuropäischen Staat zu rücken und es unter Hinweis auf die integrationspolitischen Anliegen der Schweiz mit einem der Erpressung nahen Ansatz lösen zu wollen, verrät einen schlechten Stil und einen Verlust an Augenmass».

Schweiz-EU (Symbolbild) 
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Nach dem EWR-Nein im Dezember 1992, wurde ...Bild: Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Nach dem EWR-Nein im Dezember 1992, wurde Bundespräsident Adolf Ogi zum charmanten «Rettungsring» für die Schweizer Aussenpolitik.
... Bundespräsident Adolf Ogi zum charmanten «Rettungsring» für die Schweizer Aussenpolitik.Bild: Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Der härteste Verhandlungspartner in der Frage der Verabschiedung bilateraler Verhandlungsmandate Schweiz–EG war Spanien. Madrid nutzte die schwache Verhandlungsposition Berns, um ein Entgegenkommen bei spanischen Agrarexportbegehren bezüglich Käse, Fleisch und Alkoholika sowie Gespräche über eine Besserstellung der spanischen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in der Schweiz zu erwirken.

Mitte Dezember begab sich Bundespräsident Ogi nach Madrid, um auf Einladung des spanischen Königs mit Ministerpräsident Felipe Gonzalez einen positiven Neubeginn der bilateralen Beziehungen einzuläuten. Somit schien bei Jahresende eigentlich der Weg geebnet, damit die Schweiz mit der EU in bilaterale Verhandlungen zu einzelnen Sektoren – Wirtschaft, Verkehr, Forschung, Personenfreizügigkeit, Agrarhandel – treten konnte. Dennoch blieb es bis zum Abschluss der Bilateralen Abkommen I im Jahr 1999 noch ein weiter Weg. Wie die Reise weiterging, werden die Akten zeigen, die am 1. Januar 2025 der Öffentlichkeit zugänglich werden.

Gemeinsame Recherche

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Der vorliegende Text ist das Produkt einer Zusammenarbeit zwischen dem Schweizerischen Nationalmuseum und der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis). Das SNM recherchiert im Archiv der Agentur Actualités Suisses de Lausanne (ASL) Bilder zur schweizerischen Aussenpolitik und Dodis kontextualisiert diese Fotografien anhand des amtlichen Quellenmaterials. Die Akten zum Jahr 1993 wurden am 1. Januar 2024 auf der Internetdatenbank Dodis publiziert. Die im Text zitierten Dokumente und weitere Akten aus dem Band Diplomatische Dokumente der Schweiz 1993 sind online verfügbar.
>>> Weitere historische Artikel auf: blog.nationalmuseum.ch
watson übernimmt in loser Folge ausgesuchte Perlen aus dem Blog des Nationalmuseums. Der Beitrag «Mit Schirm, Charme und Ogi» erschien am 1. Januar.
blog.nationalmuseum.ch/2024/01/mit-schirm-charme-und-ogi
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15 Kommentare
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Auster N
29.01.2024 00:07registriert Januar 2022
Es ist heute noch ein richtiger Mist, dass wir nicht im EWR sind. Niemand will und muss in die EU, aber der EWR brächte uns wirklich was. Ausserdem, alle Nachteile des EWR haben wir ja sowieso mir unseren Wendehälsen in Bern.
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