Sie sind vom Radar der Migrationsbehörden verschwunden, von ihnen fehlt jede Spur: Bis Ende November haben in der Schweiz 8166 Personen ihr laufendes Asylverfahren abgebrochen – und sind untergetaucht. Ein neuer Rekordwert: Im gleichen Zeitraum 2015 verschwanden 4943 Asylsuchende – rund ein Drittel weniger als im laufenden Jahr. Das zeigt die offizielle Statistik des Staatssekretariats für Migration (SEM). Hochgerechnet auf das ganze Jahr dürften damit 2016 so viele Asylbewerber untergetaucht oder unkontrolliert weitergereist sein wie noch nie.
Dazu kommen einige tausend Personen, die als «rechtswidrig Eingereiste» von den Grenzwachtkorps oder der Polizei angehalten und den Migrationsbehörden zur Registrierung übergeben werden, aber nie dort ankommen. Über ihre Zahl kann nur spekuliert werden. Allein in den Sommermonaten Juni, Juli und August verschwanden so über 3000 Personen. Das SEM musste damals einräumen, dass «bis zu 40 Prozent» dieser illegal eingereisten Personen untertauchen, bevor sie von den Schweizer Behörden erfasst werden konnten – und bezeichnete dies als «neue Entwicklung».
Politiker wie der Aargauer SVP-Nationalrat Andreas Glarner warnten angesichts dieser Zahlen, dass von untergetauchten Personen ein Sicherheitsrisiko ausgehe – als Kriminelle oder potenzielle Terroristen. Diese Warnung hat mit dem Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt neuen Auftrieb erhalten. Als mutmasslichen Attentäter identifizierten die Behörden einen tunesischen Asylbewerber, dessen Gesuch in Deutschland bereits abgelehnt worden war. Da Tunesien jedoch seine Rücknahme verweigerte, wurde er in Deutschland geduldet – und tauchte unter. Bis er als Mörder wieder auftauchte.
Zwei Fragen drängen sich auf: Wie ist der deutliche Anstieg von untergetauchten Asylsuchenden 2016 im Vergleich zum Vorjahr zu erklären? Und: Geht von den untergetauchten Asylsuchenden und illegal Eingereisten eine Gefahr aus?
Die Schweiz müsse aus dem Fall des Attentäters von Berlin Lehren ziehen, sagte Saïda Keller-Messahli, Präsidentin des Forums für einen fortschrittlichen Islam, diese Woche gegenüber «20 Minuten». Für die Islamkennerin mit Wurzeln in Tunesien ist das Untertauchen von Asylbewerbern ein «gravierendes Problem und muss unbedingt verhindert werden». Sie fordert sogar Präventivhaft: «Wer ausgeschafft werden muss, sollte in Haft sein, bis das Herkunftsland Ausreisepapiere bereitstellt.»
Beim SEM stösst diese Forderung auf wenig Verständnis – zumal die Schweiz im Gegensatz zu Deutschland insbesondere mit Tunesien keine Rückführungsprobleme habe. Der Grund: 2012 hat die zuständige Bundesrätin Simonetta Sommaruga mit Tunesien eine Migrationspartnerschaft abgeschlossen. Dies erleichtert die Rückführung unerwünschter Migranten.
Auch darüber hinaus werden Sicherheitsbefürchtungen durch untergetauchte Asylsuchende beim SEM relativiert. «Bereits beim Eintritt in die Bundesasylzentren werden Asylsuchende in den polizeilichen Datenbanken wie RIPOL oder SIS abgefragt», betont SEM-Sprecher Martin Reichlin. «Der grösste Teil jener, die den Asylprozess verlassen, sind also nicht gänzlich unkontrolliert, sondern wurden mindestens einmal überprüft.» Zudem würden die Daten von Asylsuchenden aus Risikoländern direkt an den Nachrichtendienst oder das Fedpol übergeben.
Als Hauptgrund für die Zunahme der «unkontrollierten Abreisen» nennt Reichlin die verschärfte und beschleunigte Asylpraxis in der Schweiz. «Asylsuchende ohne Aussicht auf einen Verbleib werden über ihre geringen Chancen relativ rasch informiert», so Reichlin. Diese Personen würden sich deshalb oftmals dafür entscheiden, den laufenden Asylprozess vorzeitig zu verlassen. «Nach allen vorliegenden Informationen verlässt der weitaus grösste Teil dieser Personen die Schweiz», sagt Reichlin. Eine Zunahme von Sans-Papiers in der Schweiz sei jedenfalls nicht zu verzeichnen.