Die Ausgangslage könnte unterschiedlicher nicht sein. Der SC Bern möchte unbedingt mit Captain Martin Plüss den Vertrag um ein weiteres Jahr verlängern. Auch Trainer Kari Jalonen ist sehr an einer Weiterverpflichtung seines wirkungsvollsten Mittelstürmers interessiert.
Aber die Gespräche zwischen Sportchef Alex Chatelain und seinem Leitwolf ziehen sich seit Wochen hin. «Ich hoffe, dass wir bald zu einem Entscheid kommen», sagt Alex Chatelain. Martin Plüss lässt sich nicht von einem Agenten vertreten. Er handelt seine Verträge selber aus. Es geht auch nicht um Geld. Vielmehr wägt Martin Plüss seine Entscheidung sorgfältig ab und lässt sich Zeit. Eine Einigung auf einen neuen Vertrag wird in den nächsten Tagen erwartet.
Viel heikler ist die Ausgangslage in Zürich. Dort sehen wir Ansätze zu jenen sportlichen «Melodramen», die zu den Besonderheiten unseres Hockeys gehören.
Im Schweizer Hockey unterscheidet sich der äussere Rahmen eines NLA-Spiel ja kaum mehr von einer NHL-Partie. Unser Hockey ist nach der Einführung der Playoffs (1986) weitgehend «amerikanisiert», professionalisiert worden. Selbst Transfers während der Saison, einst völlig undenkbar, gehören heute zum Geschäft.
Nur in einem ganz speziellen, emotionalen Bereich werden wir wohl nie ganz «amerikanisch»: Bei der Verabschiedung grosser Spieler in den Ruhestand. Das ist gut so. Das «Melodrama» um den Übertritt von HCD-Titan Reto von Arx ins «richtige» Leben ist uns noch in bester Erinnerung.
Diese reizvolle Besonderheit unseres Hockeys heisst «Freundschafts-Falle». In Nordamerika ist Eishockey «Big Business» mit klaren Regeln nach dem Grundsatz:
Der Spieler spielt.
Der Coach coacht.
Der Manager managt.
Der Schreiber schreibt.
Der Spielerberater berät.
Der Teambesitzer besitzt.
Der Rücktritt von grossen Spielern wird wunderbar inszeniert und ist eigentlich nie ein Problem. In den NHL-Unternehmen findet jeder, wenn er will, weiterhin einen Arbeitsplatz im Hockey. Und ein grosser Spieler hat so viel Geld verdient, dass er bis ans Ende seiner Tage keiner bezahlten Arbeit mehr nachgehen muss.
Bei uns haben die Hockeyunternehmen nicht für alle Arbeitsplätze, die im Hockey bleiben möchten. Und keiner hat so viel verdient, dass er finanziell ausgesorgt hat. Eishockey ist zwar ein Geschäft, aber nicht «Big Business» und in der DNA immer auch eine charmante Mischung aus Pfadfinder-Freundschaften, Kollegen-Seilschaften und kapitalistischem Rock’n’Roll.
Wir kennen die klare nordamerikanische Rollentrennung glücklicherweise (im Sinne guter Unterhaltung) oft nicht. Die Besitzer mischen sich schon mal ins Management und bisweilen sogar ins Coaching ein. Die Manager (Sportchefs) tauchen an der Bande auf. Die Spieler sind mit dem Trainer oder dem Sportchef befreundet. Chronisten kungeln mit Spielern, Coaches und Spieleragenten, und Spieleragenten vertreten Spieler und Trainer – was in Nordamerika undenkbar wäre. Im Laufe der Zeit entwickeln sich in unserem beschaulichen Hockeyparadies immer wieder freundschaftliche Beziehungen über alle Funktionen und Hierarchiestufen hinweg. Nicht nur in Lugano.
Reibungslose Rücktritte und Wechsel in die Klubbüros gibt es zwar auch. HCD-Titan Marc Gianola ist beispielsweise Spengler-Cup-General geworden und inzwischen besetzen die meisten Klubs den Posten des Sportchefs mit ehemaligen Spielern. Aber nicht für jeden grossen Spieler, der zurückritt, hat es einen passenden Posten. Die Chronisten dürfen sich beim nahenden Abschied eines Titanen oft an einem wunderbaren Theater ergötzen.
Nicht nur beim Rücktritt von Reto von Arx hat es Blitz und Donner gegeben. Auch der Abschied von Gottérons Benjamin Plüss löste Polemik aus. Selbst der SC Bern schaffte es nicht, Renato Tosio – damals der populärste Spieler der neueren Klubgeschichte – ins Unternehmen zu integrieren. Nicht einmal Chris McSorley gelang eine stilvolle Scheidung von Captain Goran Bezina. Und Fribourg-Gottéron vermochte Gil Montandon, einer der grössten aller Zeiten, nach dem Rücktritt nicht ins Unternehmen zu integrieren.
Zufall? Nein. Manchmal fürchten die Manager die Strahlkraft der Eishelden, die durchaus politische Gestaltungskraft haben. Manchmal zerbrechen gar jahrelange Freundschaften, die sich über die Hierarchiestufen hinweg entwickelt haben. Wie im Fall von Reto von Arx: Arno Del Curto, der Trainer, der für ihn in der Mannschaft keinen Platz mehr sah, war sein bester Freund und ist es nun nicht mehr. Der Pulverdampf rund um dieses Melodrama hat sich bis heute nicht ganz verzogen.
Und nun Mathias Seger. «Wir führen Gespräche», sagt ZSC-Manager Peter Zahner. Er sagt es mit einer Bestimmtheit, die dem Chronisten verrät, dass diese Sache hochheikel ist. Er verschanzt sich hinter diesem Satz. Wohlwissend, dass in der «Causa Seger» jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird.
Martin PIüss ist auf dem Eis nach wie vor ein Leitwolf und wird, wenn er weiterspielt, dazu in der Lage sein, diese Rolle auch nächste Saison zu spielen. Deshalb will ihn der SCB unbedingt weiter verpflichten.
Mathias Seger ist nach wie vor eine grosse, charismatische Spielerpersönlichkeit. Aber auf dem Eis ist er nicht mehr dazu in der Lage, die Rolle des Leitwolfes zu übernehmen. Er ist politisch und emotional nach wie vor eine Schlüsselfigur. Aber nicht mehr sportlich. Die ZSC Lions haben genug junge Verteidiger um den Leitwolf zu ersetzen.
Alles wäre wunderbar, alles wäre einfach, wenn Mathias Seger von sich aus den Rücktritt erklären würde. Längst ist für ihn ein Arbeitsplatz in der Organisation der ZSC Lions reserviert – für den Fall, dass er weiterhin im Eishockey arbeiten möchte. Er würde mit allen Ehren in den sportlichen Ruhestand entlassen – so wie es bei einer Organisation mit Stil der Brauch ist. Die ZSC Lions sind ein Hockeyunternehmen mit Stil.
Aber Mathias Seger hat seinen Rücktritt noch nicht erklärt. Obwohl ihm enge Vertraute dazu geraten haben. Was, wenn er seinen auslaufenden Vertrag verlängern möchte?
Edgar Salis und Peter Zahner hoffen nun inständig, Mathias Seger möge den Rücktritt per Ende Saison erklären. Dann sind sie aus dem Schneider. Sportchef Edgar Salis, einst in einer WG mit Mathias Seger und später vorübergehend sein Agent, mag gar nicht daran denken, in dieser Causa einmal einen Entscheid fällen zu müssen. Er ist, wie Arno Del Curto im «Fall Reto von Arx», in die «Freundschafts-Falle» geraten. Was aber, wenn Mathias Seger weiterspielen möchte, so wie damals Reto von Arx in Davos? Wer sagt ihm dann, dass es keinen neuen Vertrag mehr gibt? Wer sagt es dem lieben Mathias?
Vertraute von Mathias Seger sagen, er sollte zurücktreten. Aber sie liegen falsch. Dass ein Titan auch dann weiterspielen möchte, wenn er seine Rolle als Leitwolf nicht mehr ausfüllen kann, ist verständlich.
Ein Spieler macht nur dann eine grosse Karriere, wenn das Eishockey nicht nur sein Beruf, sondern seine Leidenschaft ist. Und warum denn nicht auch dann noch ein oder zwei Jahre weiterspielen, wenn es nicht mehr möglich ist, das Spiel zu dominieren? Warum soll einer nicht noch ein oder zwei Jahre weiterhin jener Beschäftigung nachgehen, die einer liebt? Warum nicht noch ein oder zwei Jahre die Kameraderie in der Kabine geniessen und Spass haben? Schon das Wort «Spieler» sagt uns ja, dass hier erwachsene Männer bezahlt werden, um zu spielen (und nicht arbeiten). Es folgen ja nach dem Rücktritt noch viele, viele vergleichsweise unaufgeregte Jahre.
Ein seltsamer Transfer zeigt uns, dass die ZSC Lions ohne Mathias Seger planen. Sie haben für nächste Saison Dave Sutter (24) vom EHC Biel verpflichtet. Ein Titan (184 cm/96 kg), geboren, das Spiel zu dominieren. Aber ein ungeschliffener Diamant, der noch Freundschaft mit dem Puck schliessen muss. 15 Jahre jünger als Mathias Seger.
Wo soll denn Dave Sutter nächste Saison spielen, wenn Mathias Seger bleibt? Die ZSC Lions haben jetzt schon genug junge Verteidiger, auch im Farmteam, die gefördert werden sollten.
Der guten Ordnung halber sei ausdrücklich erwähnt, dass der Transfer von Dave Sutter von den ZSC Lions nicht bestätigt wird (offiziell ist nur, dass er Biel Ende Saison verlassen wird) und ein Kommentar zu obiger Frage («Wo soll denn Dave Sutter spielen, wenn Mathias Seger bleibt?») ausdrücklich verweigert wird. Und niemand hat bei den ZSC Lions gesagt, man hoffe, dass Mathias Seger per Ende Saison zurücktritt.