Die Partei Vetëvendosje gilt als Hoffnung der kosovarischen Jugend. Überdurchschnittlich viele Kosovaren in der Schweiz haben der Partei bei den Wahlen im Juni ihre Stimme gegeben. Im Wahlkampf warb sie mit Slogans wie «Mit Dieben ist kein Staat zu machen!», im Parlament versprühte sie aber auch schon Tränengas. watson hat in Pristina mit dem Parteichef Visar Ymeri gesprochen.
Herr Ymeri, Ihre Partei hat unter den Kosovaren in der Schweiz überdurchschnittlich gut abgeschnitten. Wie erklären Sie sich das Ergebnis?
Visar Ymeri: Ich denke, Vetëvendosje ist unter den Kosovaren in der Schweiz, aber auch in anderen europäischen Ländern aus zwei Gründen beliebt: Einerseits versteht die Diaspora unser Programm und unsere Forderungen. Andererseits ist die Diaspora in der Lage, den Kosovo mit ihrem Wohnland zu vergleichen: Kosovaren in der Schweiz sehen, wie ein Staat funktionieren sollte. Sie vergleichen die öffentlichen Dienstleistungen hier im Kosovo mit der Schweiz und merken: Diese bieten nicht, was man von einem demokratischen Staat erwarten darf. Hinzu kommt: Die Regierungsparteien können im Ausland nicht auf die Druckmittel und Klientelwirtschaft zurückgreifen, wie sie das im Kosovo tun, um Wählerstimmen zu holen.
Die bisherigen Regierungsparteien im Kosovo haben den Ruf, korrupt zu sein. Weshalb sollen die Bürger Ihnen mehr vertrauen?
Wir fordern schon lange im Einklang mit einer Mehrheit des Volkes eine Regierung, die nicht korrupt ist, und einen Staatsapparat, der nicht von den Regierungsparteien missbraucht wird. Wir konnten in der Hauptstadt Pristina, wo Vetëvendosje Anfang 2014 das Bürgermeisteramt übernommen hat, beweisen, dass wir es besser machen als die anderen Parteien: Die Behörden arbeiten seither effizienter, im Dienst der Bürger und ohne Korruptionsskandale. Ausserdem haben wir dem illegalen Bauen ohne Bewilligung ein Ende gesetzt.
Vetëvendosje hat im Februar 2016 im Parlament Tränengas versprüht, um Abstimmungen über Regierungsvorlagen zu verhindern. Verhält sich so eine demokratische Partei?
Wir verstehen natürlich, dass Bilder von einem Parlamentssaal voller Tränengas für auswärtige Beobachter schockierend und schwer zu verstehen sind. Wenn man jedoch die politischen Umstände kennt, ist unser Handeln nachvollziehbar. Wir haben keinen radikalen Charakter. Wir haben uns manchmal radikaler Mittel bedient, um zu verhindern, dass noch viel radikalere, schädliche Entscheidungen umgesetzt werden.
Welche Entscheidungen sprechen Sie an?
Wir haben uns gegen das von der Regierung unterzeichnete Abkommen zur Schaffung des sogenannten serbischen Gemeindeverbands gewehrt. Damit wäre der Grundstein für die Gründung einer serbischen Republik innerhalb Kosovos gelegt worden, die komplett von Serbien kontrolliert würde. Dieser Beschluss hätte nachhaltig die Souveränität der Republik Kosovo untergraben. Unser Staat muss die Gleichheit all seiner Bürger garantieren – das wäre durch die Existenz des serbischen Gemeindeverbands verunmöglicht worden.
Und der einzige Ausweg war der Einsatz von Tränengas?
Die Regierung des Kosovo handelte völlig intransparent und undemokratisch. Weil uns keine demokratischen Mittel zur Verhinderung dieses Entscheids mehr geblieben waren, sahen wir uns gezwungen, zum Tränengas zu greifen. Der oberste Gerichtshof stellte später fest, dass das Abkommen 23 Artikel der Verfassung verletzt hatte. In jedem anderen entwickelten Land Europas hätten wir ein solches Abkommen mit rechtlichen Mitteln statt Tränengas verhindern können. Sie sehen: Die Welt muss keine Angst vor uns haben. Wir haben ein demokratisches, transparentes Parteiprogramm, von dessen Umsetzung alle Bewohner des Kosovo profitieren würden – egal welcher Ethnie sie angehören.
Wie würden Sie dieses Programm zusammenfassen?
Wir sind eine sozialdemokratisch gesinnte Partei, die sich dafür einsetzt, dass die Republik Kosovo endlich ein souveräner Staat wird. Dieser Prozess ist noch nicht am Ziel angekommen. Das Territorium und die Gesellschaft des Kosovos müssen ein einziges, integriertes Gebilde sein. Das ist momentan nicht der Fall: Ein Teil Kosovos wird de facto von Serbien kontrolliert. Der Kosovo darf aber kein zweites Bosnien werden, kein gespaltenes Land, in dem die verschiedenen Bevölkerungsgruppen neben- statt miteinander leben. Um solche Verhältnisse zu verhindern, braucht es einen direkten Dialog mit den serbischen Bürgern Kosovos, und keine Verhandlungen mit Belgrad wie bisher.
Und was genau soll an Ihrem Programm sozialdemokratisch sein?
Im Kosovo öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer stärker. Weniger als drei Prozent der Bevölkerung verfügen über mehr als die Hälfte des Gesamtvermögens. Vetëvendosje will ein Ende der neoliberalen Wirtschaftspolitik, welche für diese Verhältnisse verantwortlich ist. Wir brauchen eine dynamische Wirtschaft, die Arbeitsplätze für die Bevölkerung schafft. Aber diese Wirtschaft muss so aufgebaut und reguliert sein, dass sie für eine fairere Verteilung des Wohlstands sorgt.