Das Militär, namentlich General Ulrich Wille, das Bürgertum und die Bauern seien die Retter des Schweizer Bundesstaates. So will SVP-Vordenker Christoph Blocher des Landesstreiks gedenken, der vor bald 100 Jahren die Schweiz erschütterte.
Wenn er am 13. November zu einem Vortrag in Uster einlädt, geht es ihm einerseits darum, den damaligen Streikführer Robert Grimm als bolschewistischen Agitator abzukanzeln, ihn als «Erpresser» darzustellen, der 1918 den Umsturz herbeiführen wollte.
Dadurch wären Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat akut gefährdet gewesen, so Blocher. Es geht ihm mit dieser Erzählweise andererseits darum, das historische Ereignis in ein rechtes Licht zu rücken. Er ficht damit die Auslegung der Linken und Gewerkschaften an, die den Landesstreik ebenfalls feiern, weil er angeblich den Beginn des Sozialstaates markiert.
Was gilt denn nun? Blochers Sicht entspricht ziemlich genau dem Eindruck konservativer Kreise kurz nach dem Streik: Die Schweiz habe unter direktem Einfluss der Bolschewisten gestanden, welche die Streikenden finanziell unterstützt hätten. Die Soldaten, die Bauern und eine Mehrheit des Volkes hätten den Untergang abgewandt. 50 Jahre nach dem Landesstreik konnte der Aargauer Historiker Willi Gautschi diesen Mythos des Umsturzversuches widerlegen.
Streikführer Grimm unterzeichnete zwar zusammen mit anderen Sozialisten – darunter Trotzki und Lenin – das Zimmerwalder Manifest. Dass Grimm eine Revolution nach russischem Vorbild plante, konnte aber widerlegt werden. Ein neues Buch, «Der Landesstreik» der Historiker Roman Rossfeld, Christian Koller und Brigitte Studer, zeichnet zudem nach, wie sich Teile der Arbeiterschaft schon Wochen nach dem Streik von den Revolutionsvorwürfen distanzierten, und auch davon, dass sie von «Bolschewiki» unterwandert seien.
Unbestritten ist, dass das vierte Kriegsjahr seine Spuren in der Bevölkerung hinterliess: Die Brotpreise und die Mieten stiegen an, Nahrung und Wohnraum verknappten sich. Gleichzeitig erhielten Militärdienstleistende und ihre Familien keinen Lohnersatz und bei Arbeitern und Angestellten hinkte das Einkommen der Teuerung hinterher. Im Sommer 1918 waren 24.4 Prozent der Basler Bevölkerung aufgrund ihres geringen Einkommens notstandsberechtigt und bezogen Milch, Brot, Kartoffeln und Brennmaterial zu verbilligten Preisen.
Auf der anderen Seite verdienten die Schweizer Industrie, Handeltreibende und Landwirte in den Kriegsjahren gutes Geld. Auch Blocher hält sich an das Narrativ, wonach soziale Spannungen in der Bevölkerung wuchsen. Jeder Siebte war auf Unterstützung des Staates angewiesen. In den Städten war es jeder Vierte.
Zwar entspannte sich die Situation im zweiten Halbjahr 1918 dank guter Ernte und Getreidelieferungen aus den USA. Doch die Behörden erhöhten die Schwelle für staatliche Unterstützung, womit sich gerade für mittelständische Familien die Lage verschärfte.
Gleichzeitig war der Streik als Protest gegen missliche Umstände ein gängiges Mittel. In der bürgerlich dominierten Schweiz Anfang des 20. Jahrhunderts liessen sich Anliegen der Arbeiterschaft nur schwer durchsetzen. Die Gewerkschaften erkannten im Streik ein probates Mittel. Zwar galt zu Beginn des Krieges 1914 ein Burgfrieden unter den Schweizer Parteien, um die innenpolitische Ruhe zu sichern.
Bald nahmen die Streiks aber wieder zu. 1916 kam es laut Rossfeld zu 35 Streiks mit 3330 Beteiligten, 1917 zählte die Schweiz 140 Streiks mit 13459 Beteiligten, und 1918 wurde 269 Mal gestreikt mit 24 382 Beteiligten – der Landesstreik ausgenommen, bei dem 250 000 Arbeiter teilnahmen. 1918 nahm nicht nur die Zahl der Streiks zu, es änderte sich im Herbst auch die Qualität: In Zürich legten Bankangestellte die Arbeit nieder, um höhere Löhne zu fordern. In der Politik löste dies Ängste aus, die Angestellten könnten sich mit den Arbeitern solidarisieren.
Der Landesstreik kann nicht isoliert vom Weltgeschehen betrachtet werden. Ein Jahr nach der Russischen Revolution von 1917 fürchteten sich die Autoritäten vor dem Jahrestag, dem 7./8. November. Weil die SP Ende Oktober 1918 zu Kundgebungen aufrief, beantragte General Wille beim Bundesrat ein Truppenaufgebot für Zürich, um einen Putsch zu verhindern. Er blitzte ab.
Am 5. November forderte Zürich militärische Unterstützung, worauf der Bundesrat die Besetzung Zürichs beschloss. Das Oltener Aktionskomitee (OAK), in welchem die wichtigsten Köpfe der Gewerkschaften und Parteien unter dem Vorsitz von Robert Grimm vereinigt waren, rief am 9. November zu einem 24-stündigen Proteststreik gegen den militärischen Aufmarsch auf. Am gleichen Tag traten Arbeiter in Berlin in Generalstreik, Kaiser Wilhelm II. dankte ab. In Deutschland wurde die Republik ausgerufen. In Zürich streikte die Arbeiterunion weiter.
Zwei Tage später, am 11. November, endete der Erste Weltkrieg. Der ausgehandelte Waffenstillstand trat in Kraft. Am selben Tag bot der Bundesrat weitere Truppen auf und unterstellte das gesamte Bundespersonal der Militärgesetzgebung. Das OAK empfand die 95'000 Soldaten, von denen 20'000 in Zürich und 12'000 in Bern stationiert waren, als Provokation.
Mit ihren schweren Soldatenmänteln und neu mit Helm, Dolch und Gewehr bewaffnet, patrouillierten sie in den Strassen Zürichs. Die Kavallerie besetzte die grossen Plätze. Auch weil sich in Zürich die Situation zwischen Demonstranten und Militär zuspitzte, rief das OAK zum unbefristeten, landesweiten Generalstreik auf.
Die Streikführer knüpften neun Forderungen dran. Am 12. November 1918 legten rund 250'000 Personen ihre Arbeit nieder. Der Bundesrat stellte den Streikenden sozialpolitische Reformen und Regierungsbeteiligung in Aussicht. Am 13. November stellte der Bundesrat ein Ultimatum, am 14. November beschloss das OAK, den Streik zu beenden. Dem Tag, als ein Soldat und drei Arbeiter getötet wurden.
Trotzdem hat die Schweiz diese Krise im internationalen Vergleich glimpflich überstanden. Zwar erhielten die Soldaten den Befehl, auf Demonstranten zu schiessen und in Zürich mit Handgranaten gegen Streikende vorzugehen, die sich in Häuser verschanzten.
Doch blieb die Lage relativ ruhig. Die Streikführer suchten die Eskalation eben nicht. Sie beendeten den Streik. Sie kapitulierten. Streikführer Robert Grimm begründete im Nachgang: «Die Gegner waren zum Äussersten entschlossen.» Die Streikführer befürchteten eine blutige Niederschlagung des Streiks.
Was bleibt? Die von bürgerlichen Kreisen über Jahrzehnte gepflegte These, die Streikführer suchten den Umsturz nach bolschewistischem Vorbild, lässt sich nicht bestätigen. Das OAK hat dies in seinen Planspielen explizit ausgeschlossen. Dass Streikführer Robert Grimm indes mit Lenin sympathisierte, ist nicht von der Hand zu weisen. Das zeigt nicht zuletzt seine Mitwirkung am Zimmerwalder Manifest von 1915.
Politische und soziale Änderungen, welche die SP dieses Jahr feiert, wurden auch nicht alleine durch den Landesstreik möglich. Er hat zwar die Umsetzung der neun Forderungen des OAK teilweise beschleunigt, etwa die Einführung der 48-Stunden-Woche. Doch waren andere bereits aufgegleist. Das Volk hat dem Proporzwahlrecht bereits im Oktober 1918 zugestimmt, es wurde dann aber umgehend auf 1919 eingeführt.
Die Einführung der Alters- und Hinterbliebenenversicherung war auch schon vor 1918 Thema, wurden aber erst 1948 bzw. 1960 eingeführt. Frauen mussten auf ihr Wahlrecht bis 1971 warten. Und eine Vermögenssteuer auf Bundesebene gibt es bis heute nicht. Zudem mussten viele Arbeiter nach dem Streik in ihrem Betrieb untendurch. Die Militärjustiz leitete mehrere tausend Verfahren ein und verurteilte 147 Personen, darunter Robert Grimm und Nationalrat Ernst Nobs, der 1943 als erster Sozialdemokrat in den Bundesrat gewählt wurde.
Letzteres zeigt die subtilere Wirkung des Streiks und der Reform des Wahlsystems: Die bessere Einbindung aller politischen Kräfte in die Bundespolitik, namentlich der SP, aber auch der Bauernpartei (später SVP). Wobei sich die Linke noch Jahre nach dem Landesstreik wegen des Vorwurfs des bolschewistischen Umsturzes mit einem stärker geeinten bürgerlichen Block konfrontiert sah. In den 1920er-Jahren provozierte dies einen konservativen Backlash. Was auch erklärt, wieso die AHV-Einführung mehr als dreissig Jahre dauerte.