Herr Tanner, beim Ausstieg aus dem Lockdown braucht es eine Eindämmungsstrategie. Geht es um die Contact-Tracing-App?
Marcel Tanner: Die Konzentration auf die App ist falsch. Zu den Grundbedingungen der Eindämmungsstrategie gehört, dass wir weiterhin die Distanz- und die Hygienemassnahmen beibehalten. Dort wo die Leute in den gelockerten Verhältnissen die Distanz nicht mehr halten können, einander nahe sein müssen, kann man die Maske einsetzen. Dieses bestehende Rückgrat darf nicht verloren gehen. Dazu muss jetzt rigoros getestet werden. Wird jemand positiv getestet, muss ausfindig gemacht werden, wer mit dieser Person Kontakt gehabt hat. Danach müssen die Kontaktierten in Selbstquarantäne gehen. Und das in Selbstverantwortung. Die App ist nur ein Teil der Strategie. Das Contact-Tracing kann man auch mit klassischen Methoden machen.
Wie sehen diese aus?
Die positiv getesteten Leute werden angerufen und nach ihren nahen Kontakten befragt. Diese werden gesucht und in Selbstquarantäne geschickt. Die Kantone Zug und Basel ziehen das schon länger durch. Die App ist eine enorme Erleichterung, aber Contact-Tracing ist auch ohne möglich.
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Ist die Wahl der ausgewählten Tracing-App richtig?
Es ist eine gute Wahl, weil dabei keine Daten zentral und langfristig gespeichert werden. Sie zeigt nur an, wenn jemand mit einem positiv getesteten Menschen in Kontakt gekommen ist. Da keine Daten zentral gelagert sind, sind sie nicht von einer Instanz aus kontrollierbar. Jeder bleibt selbstverantwortlich, und zwar auf zwei Ebenen. Erstens beruht das Herunterladen auf Freiwilligkeit. Zweitens ist es auch danach jedem selbst überlassen, ob er bei einem Signal Massnahmen ergreifen will. Also sich testen lassen oder in Selbstquarantäne gehen will. In Singapur und Südkorea mussten die Betroffenen zum Beispiel auf Anruf auch ein Foto zeigen, um zu beweisen, dass sie zu Hause sind. Dieses rigorose Vorgehen ist bei uns wegen der Persönlichkeitsrechte nicht möglich.
Ist es geregelt, wie das finanziell aussieht, wenn jemand in selbst gewählter Selbstquarantäne nicht mehr arbeiten kann?
Dafür haben wir eine Verordnung. Wie beim Militär würde man über die Erwerbsersatzordnung finanzielle Hilfe erhalten.
Wird die App allen empfohlen?
Ja. Wenn wir einen Anteil von 60 Prozent an Beteiligten hätten, wäre das Erkennungsnetz sehr gut.
Die App kommt nun frühestens nach der Sommersession ab dem 1. Juli. Wie schlimm ist das?
Als Reaktion will Bundesrat Alain Berset bis dann bereits einen Versuch mit der Tracing-App starten. Das ist eine sinnvolle und geschickte Art und Weise, um die App zu propagieren und zu testen. Gleichzeitig hat man angeregt, dass gleichzeitig nun alle Kantone mit einem klassischen Contact-Tracing, wie zum Beispiel in Basel, konsequent weiterfahren.
Die Zahl der Neuinfektionen ist sehr stark zurückgegangen. Ist die Zahl Null das Ziel?
Es kann Tage geben, an denen die Zahl bei null sein wird. Aber es kann auch solche geben, in denen es wieder anzieht. Das hat man auch in Wuhan schon gesehen. Entscheidend ist aber, dass das Niveau sehr tief bleibt. Und deshalb muss man die Eindämmungsmassnahmen nicht nur an den Neuinfektionen messen, sondern die Antikörper in ausgewählten Bevölkerungsgruppen untersuchen. Dann kann man sehen, wie zum Beispiel in den Heimen und Schulen die Durchseuchung läuft und wie die Menschen exponiert waren. Auf der Website der Taskforce des Bundes gibt es nun jeden Tag ein Update der Reproduktionsrate in der Schweiz. Wichtiger als die gemittelte Reproduktionsrate für die Schweiz ist es, die regionalen Unterschiede zu erfassen. Das heisst, wo allfällige neue Hotspots entstehen. Damit man gezielt und zeitnah reagieren kann.
Kann ein zweiter Lockdown verhindert werden?
Die Idee ist nicht, dass man den Lockdown zyklisch betreibt und so Wirtschaft und Gesellschaft immer wieder ab- und anstellt. Genau das ist das Schädlichste für die Gesellschaft und Wirtschaft, eine Katastrophe. Einen zweiten vollständigen Lockdown darf es nicht geben.
Wovon ist das abhängig?
Die Taskforce sagt, wenn wir die Grundmassnahmen beibehalten, kann man die Öffnungen machen. Wenn die Bevölkerung sich aber in falscher Sicherheit wiegt und die Hygienemassnahmen nicht mehr einhält, kann es zu Ausbrüchen kommen. Deshalb ist es wichtig, dass niemand nachlässt. Dann kann es zwar trotzdem zu einer zweiten Welle kommen, aber diese können wir gezielt handhaben, indem wir die Hotspots angehen. Es könnte dann geschehen, dass in öffentlichen Verkehrsmitteln Masken getragen werden müssen oder in gewissen Heimen das Besuchsrecht wieder eingeschränkt wird. Aber ohne dass alle anderen Heime wieder geschlossen werden.
Irgendwann gehen die Grenzen wieder auf. Was wird dann geschehen?
Das ist derzeit das Schwierigste. So wie über die Kantone müssen wir auch über Landesgrenzen hinweg Lösungen finden. Gerade in grenznahen Agglomerationen mit den vielen Grenzgängern. Die Versorgungsketten sind verknüpft miteinander, deshalb müssen die Grundmassnahmen mit den anderen Staaten besprochen werden. Es wird wohl ein schrittweiser Prozess sein.
Wie müssen Reproduktionsraten sein, damit die Grenzen auf gehen?
Die Reproduktionsrate ist nur ein Grund-Mass dazu. Sie muss aber überall klar unter Eins liegen, nicht nur in allen Regionen der Schweiz. Dann spielt es eine Rolle, wo Neuansteckungen stattfinden. Es ist eine andere epidemiologische Situation, wenn diese in Clustern, lokal begrenzt in einem Betrieb oder in einem Altersheim, auftreten als in einem ganzen Land. Normalität gibt es, wenn es Ansteckungen «nur» in solchen Clustern gibt und nicht in der ganzen Bevölkerung.
Schweden hat auf einen Lockdown verzichtet. Wäre das auch in der Schweiz richtig gewesen?
Schweden hat eine andere Geografie und ein anderes Sozialgefüge als die Schweiz. Die Schweiz ist weitgehend urban. Aber auch in Schweden gelten die Hygienemassnahmen, das Social Distancing und der Schutz der Risikopersonen. Das Land hat aber stärker auf Eigenverantwortung gesetzt und gepocht. Das geht bei uns meines Erachtens nicht, weil bei uns der Individualismus stärker ist. Ich zweifle deshalb, ob das Modell Schweden bei uns so funktioniert hätte bei einem nicht sehr stark ausgeprägten Bewusstsein des Miteinanders. (aargauerzeitung.ch)